Papierknappheit

Aus Pappe wird kein Altpapier

07:40 Minuten
Mehrere ineinander gestapelte leere Pappboxen
Wohin mit all den Pappen, die beim Onlineversand anfallen? Beim Altpapierrecyling stören sie nur. © Getty Images / EyeEm / Chalinee Pratyasunti
Von Lydia Jakobi · 01.02.2022
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Im Supermarkt werden die Tüten knapp, Bücher können nicht gedruckt werden – und der Inhalt der Blauen Tonne wird zur teuren Ressource: In Deutschland herrscht Papiermangel. Das bekommt auch die Recyclingindustrie zu spüren.
Der Verleger Jan Wenzel lässt seine Finger über die Seiten eines Fotobandes gleiten. Er ertastet die verschiedenen Papiersorten, streicht mit den Fingerkuppen vorsichtig darüber – über die glänzenden Seiten, die matten, die glatten und rauen. 

„Wenn man ein Papier auswählt, kann man sagen, das ist einfach nur der Träger. Aber man kann auch die Idee verfolgen, dass jedes Element des Buches spricht", so Wenzel. "Und in dem Moment, wo das Papier eine Funktion übernimmt, ist die Frage der Differenzierung, der Auswahl des Papiers eine sehr wichtige.“
Wenzel hat den Leipziger Verlag "Spector Books" mitbegründet. In den Büroräumen ist jedes Regal und fast jeder Zentimeter Boden mit Büchern vollgestapelt. Bände über Kunst, Design und zeitpolitische Themen, bei denen das Papier – so sagt es Wenzel – selbst zum Argument wird. Bis vor zwei Jahren konnte der deutsche Markt ihm dabei fast jeden Wunsch erfüllen – egal, ob er dünnes, kräftiges, blütenweißes oder eingefärbtes Papier wollte. Das hat sich geändert.
„Seit dem letzten Sommer sind Papiere über längere Zeiten nicht lieferbar und die Papierpreise sind im Moment extrem in Bewegung. Und es sind keine Zeichen zu sehen, dass diese Verteuerung ein Ende hat.“

An vielen Stellen im Papierkreislauf stockt es

Papiermangel, Preisexplosion, Lieferengpässe. Die Probleme des Verlags tauchen an vielen Stellen des Papierkreislaufs wieder auf.
Besuch in der Papierfabrik in Eilenburg, nahe Leipzig. Das Werk produziert Recyclingpapier für Zeitungen und Werbeprospekte. Noch.
Geschäftsführer Dirk Schwarze hat die Eisentür zu einer riesigen Lagerhalle aufgestoßen. Im goldroten Licht der Dämmerung erhebt sich ein gewaltiger Berg zerfledderter Zeitungen. Bis unter die Decke häufen sie sich - sechs bis acht Meter hoch, gerade so, dass sich auf der Spitze noch ein Schwarm Tauben niederlassen konnte. 
„Da sieht man Apotheken-Umschau oder Wochenspiegel. Aber man sieht eben auch manchmal fertig verschweißte Magazine mit Proben drin oder für Kinderspielzeug.“ 

Zu viel Verpackung, zu wenig Druckerzeugnisse

Folien oder Büroklammern werden hier im Werk der schweizerischen "Model-Group" aussortiert. Genauso wie die vielen Kartonagen, die mittlerweile die Hälfte dessen ausmachen, was in der blauen Tonne landet, wie Dirk Schwarze erläutert. Der studierte Ingenieur läuft in neongelber Schutzjacke zu einem Förderband, das ohne Pause Zettel und Zeitungen in eine Ecke der Halle spuckt.
„Es staubt hier ein bisschen, weil das von oben runterfällt. Aber Sie sehen hier die Kartonagenreste. Die möchten wir beim Druckpapier nicht haben, weil der Karton braun gefärbt ist, und die braun gefärbte Faser bekommen wir nie wieder weiß“, sagt Schwarze.
„Als wir vor zehn Jahren die Sortierung gebaut haben, haben wir damit geplant, dass wir 30 Prozent Verpackung haben und 70 Prozent Druckprodukte. Das ist klar umgeschwenkt und stellt uns vor die Herausforderung, wie können wir die Sortieranlage noch betreiben? Bei 50 zu 50 kriegen Sie das noch hin. Wenn es kippt, müssen Sie das Sortierkonzept ändern.“
Blick in eine Halle mit einem riesengroßen Berg aus Altpapier.
Immer mehr Pappe, immer weniger Papier: Das stellt die Recyclingindustrie vor Probleme.© Deutschlandradio / Lydia Jakobi
Was Dirk Schwarze für sein Werk beschreibt, bestätigt der Verband „Die Papierindustrie“ für die gesamte Branche. Dessen Sprecher Gregor Geiger muss oft erklären, warum Papier knapp und teuer geworden ist. Weil die Zeitungsauflagen schrumpfen und die Digitalisierung zum Beispiel gedruckte Kataloge verdrängt, haben in ganz Europa Papierfabriken dichtgemacht oder auf Pappe umgerüstet.

Während der Pandemie wurde wenig gedruckt

2021 gab es einen kurzen Aufschwung, denn nach dem Lockdown wurde wieder Print-Werbung geschaltet. Aber nun behindert die Pandemie Lieferketten – und die Produktionskapazitäten fehlen auch, sagt Verbandssprecher Geiger:
„Corona hat auch noch einen ganz speziellen Effekt beim Altpapier gehabt. Und zwar wurden die Zeitungen und Zeitschriften, die man jetzt als Altpapier für die verstärkte Herstellung gebraucht hätte, während des letzten Lockdowns gar nicht erst gedruckt. Das heißt, Altpapier ist am Markt knapp und entsprechend teuer.“
So haben sich die deutschen Großhandelspreise für Altpapier innerhalb eines Jahres verdreifacht. Im selben Zeitraum sind dem Statistischen Bundesamt zufolge auch die Importpreise gestiegen – um 75 Prozent. Und das in Deutschland, das bei der Produktion von Papier und Karton zu fast 80 Prozent auf Recycling setzt.

Neues Papier herzustellen, kostet viel Energie

Nun vermehrt neues Papier aus frischem Zellstoff herzustellen, wäre für die Umwelt fatal, erklärt Samuel Schabel. Er leitet das Fachgebiet Papierfabrikation an der TU Darmstadt:

„So grob über den Daumen gepeilt brauche ich mindestens die Hälfte Energie weniger, wenn ich das aus Altpapier mache. Bei manchen Papierprodukten deutlich noch weniger. Fasern aus einem Holzstamm herauszulösen, kostet viel Energie und das kann man dann eben auf viele Nutzungszyklen umlegen, sodass es von der Energie her insgesamt wesentlich besser wird.“
Zurück in der Eilenburger Papierfabrik, wo der gesäuberte Altpapierbrei zwischen Sieben und Rollen zu Bahnen geformt wird. 
„Hier am Standort haben wir in Spitzenzeiten über 300.000 Tonnen hergestellt. Aufgrund des kontinuierlichen Nachfragerückgangs ist auch die Auslastung jetzt nicht mehr so hoch wie früher, sodass wir in schwachen Jahren nur noch bei 220.000 bis 230.000 Tonnen pro Jahr lagen, was dann eben auch zu Anlagenstillständen geführt hat.“

"Jeder Fetzen hilft"

Auf Dauer lohne es sich nicht mehr, Druckpapier in Eilenburg herzustellen. Als die schweizerische Model Group die Fabrik im Sommer 2021 übernahm, hatte sie deswegen angekündigt, den Standort umzurüsten und ab 2024 Wellpappenpapier zu produzieren. Ein Paradebeispiel für die Umwälzungen im hochkomplexen Papiergeschäft, sagt Forscher Schabel von der TU Darmstadt:
„Wenn sich da was ändert, wie zum Beispiel der Konsum, dass man viel weniger Zeitungen liest und mehr Verpackungen braucht für den Online-Handel, dann gibt es immer ein Problem. Solange es im Gleichgewicht ist, dann ist es ein stabiler Kreislauf. Wenn aber bei dem einen die Nachfrage runtergeht und bei dem anderen hoch, kommen die Kreisläufe durcheinander.“ 
Es gibt Lösungsansätze: Zum Beispiel Toilettenpapier-Hersteller, die von Altpapier auf Stroh umsteigen. Aber jeder könne einen kleinen Beitrag leisten, sagt Fabrikleiter Schwarze: 
„Jeder Fetzen hilft. Auch wo man denkt, dieses Schnipselchen schmeiße ich weg. Da denke ich, das sind die letzten Prozente, die uns fehlen, um die Kreisläufe zu schließen.“ 

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