Marco Politi: "Im Auge des Sturms: Franziskus, die Pest und die Heilung der Welt"
Herder Verlag, Freiburg 2021
192 Seiten, 18 Euro
85. Geburtstag von Papst Franziskus
Reformer gegen viele Widerstände: Papst Franziskus ringe der katholischen Kirche "im Zickzackkurs" Signale der Liberalisierung ab, so der Vatikankenner Marco Politi. © Corbis / Alessandra Benedetti
"Er ist keine allmächtige Figur"
17:23 Minuten
In der Weltkirche ist der Papst vielen zu radikal. In Deutschland wird er dafür kritisiert, dass schönen Gesten keine Taten folgen. Das sei ungerecht, sagt der Journalist Marco Politi über Franziskus, der gerade seinen 85. Geburtstag beging.
Julia Ley: Ihr neues Buch über Papst Franziskus beginnt mit einer sehr eindrucksvollen Szene. Jorge Mario Bergoglio, der jetzige Papst Franziskus, schreitet im März 2020 auf den menschenleeren Petersplatz und spricht ohne die Massen, die dort normalerweise bei solchen Gelegenheiten zu sehen sind, den Segen Urbi et Orbi. Warum wollten Sie das Buch mit diesem Moment eröffnen?
Marco Politi: Ich fühlte, dass es Szenen und Fotos gibt, die im Gedächtnis der Menschheit bleiben. Der erste Mann auf dem Mond, der Tod Kennedys, das weinende Mädchen in Vietnam unter den Napalmbomben. Ich glaube, im Jahre 2020 war das der Moment, wo der Papst auf dem Petersplatz ganz allein war im Dunkeln. Das kommt aus den Herzen und den Gedanken der Menschen nicht heraus.
Ängste von Millionen auf seinen Schultern
Alles war zu. Die Kirche war von der Szene verschwunden. Die Menschen hatten Angst, ob sie religiös waren oder nicht. Man sah nur Ärzte, Wissenschaftler, Regierende, Särge, Intensivstationen. In dem Moment kommt Franziskus auf den Petersplatz und nimmt auf seine Schultern die Ängste, die Beklemmungen, die Desorientierung von Millionen von Menschen und versucht, dieser Situation einen Sinn zu geben.
Das ist wirklich wie eine Pest, wie es im Mittelalter war. In dem Moment hat doch Franziskus gesagt: Es ist nicht so, dass Gott den Menschen zürnt. Er fällt nicht ein Urteil über uns, sondern wir Menschen – alle Menschen, nicht nur die Katholiken oder die Christen oder Anhänger einer Religion – wir müssen entscheiden: Was wollen wir tun? Wie wollen wir die Welt nach der Pest aufbauen?
Konsequenteres Vorgehen gegen Missbrauch
Ley: Er hat wirklich in Corona eine Chance gesehen, sich noch mal neu zu orientieren, sich seiner selbst zu vergewissern und dessen, was wirklich wichtig ist. Kann diese Pandemie, die auch einen Stopp des normalen Lebens bedeutet hat, der Erneuerung der Kirche vielleicht noch mal einen neuen Schwung verleihen? Oder wirkt die Pandemie vielleicht im Gegenteil eher als eine Art Bremse für diesen ohnehin schon schleppenden Reformprozess?
Politi: Man muss nicht vergessen, wie viel Franziskus bis zum Moment der Pandemie schon geschafft hatte. Es gibt mindestens sieben Punkte, die er schon realisiert hat. Zum Beispiel: Die ganze Diskussion über sexuelle Probleme, also voreheliche Beziehungen oder die Kommunion für die wieder verheirateten Geschiedenen, oder auch die Homosexualität hat der Papst vom Tisch gewischt.
Er hat in der Vatikanbank Sauberkeit und Transparenz gebracht. Er hat zum ersten Mal Kardinäle und Bischöfe gezwungen, ohne Immunität vor das weltliche Gericht zu gehen. Das war mit Kardinal Pell in Australien oder mit dem Nuntius Monsignore Ventura in Frankreich. Er hat drei Kardinäle vom Kardinalskollegium weggeschickt - weggejagt kann man sagen. Er hat neue Regeln gegen Missbrauch aufgestellt. Er hat viele Bischöfe wegen Missbrauchs von ihrem Platz entfernt.
Enttäuschung über halbherzige Reformen
Ley: Doch gibt es auch eine ganze Reihe offener Probleme. Erst im Frühjahr hat der Vatikan die Segnung für homosexuelle Paare verboten. Auch das Pflichtzölibat besteht fort. Zumindest in Deutschland, so mein Eindruck, sind viele inzwischen eher enttäuscht von diesem Papst, von dem sie sich mehr versprochen hatten.
Politi: Die gibt es ganz bestimmt, diese offenen Probleme. Fangen wir an mit dem Zölibat. Dieser Papst hat autorisiert, dass man in der Amazonas-Synode das Problem anpackt, das erste Mal in der modernen Zeit. Er hat auch zugelassen, dass sich die Bischöfe der Amazonas-Synode aussprechen, alle Regeln der Kirche befolgend, also mit einer Zweidrittelmehrheit, dass man den Papst fragt, einen klerikalen Stand zu erlauben, in dem auch verheiratete Männer Priester sind.
Widerstand der Kardinäle
Was ist dann passiert? Dann ist innerhalb der Kirche ein Krieg ausgebrochen. Es waren nicht nur – wie in anderen Momenten – Kardinäle wie Müller oder der Kardinal Ruini, der Vorstand der italienischen Bischofskonferenz, die sich dagegengestemmt haben, sondern sogar der pensionierte Papst. Der zurückgetretene Papst Ratzinger – das war ganz unerhört – hat mit einem Kurienkardinal, Kardinal Sarah, ein Buch geschrieben und sich absolut dagegengestemmt, dass es einen verheirateten Priesterstand gibt.
Da musste Franziskus stillstehen. Er hat es nicht geschafft. Er hatte innerhalb der Kirche nicht die Mehrheit, um dieses Projekt durchzusetzen.
Aber auf jeden Fall hat der Papst die Beschlüsse der Amazonas-Synode nicht für ungültig erklärt. Sie bleiben auf dem Tisch, aber er musste stoppen. Das passiert auch in der weltlichen Politik. Man stellt sich den Papst in Rom immer als eine allmächtige Figur vor. Das ist er nicht, das ist er ganz bestimmt nicht in diesen Zeiten. Ein konservativer Papst kann in gewissen Umständen fast allmächtig sein. Aber ein reformfreudiger Papst hat immer mit Opposition zu rechnen und mit dem Kräftegewicht innerhalb der Kirche.
Offenheit für Homosexuelle
Ley: Es gibt auch die, die sagen, er geht da so eine Art Zickzackkurs. Er macht schöne Gesten, er lädt mal Transsexuelle in den Vatikan ein und spricht sich eben für mehr Liebe und Öffnung aus. Dann folgen doch nicht so wirklich Taten. Wie sehen Sie das? Waren das nur schöne Gesten? Oder warum ist daraus bis jetzt keine echte Veränderung gefolgt?
Politi: Die Ernüchterung und Enttäuschung ist ganz normal. Das gehört – ich sage es als weltlicher Beobachter – auch zu dem Spiel der Kräfte innerhalb einer so großen Organisation wie der katholischen Kirche mit 1,3 Milliarden Menschen. Aber der Papst macht keine schönen Gesten. Er geht bestimmt auf Zickzackkurs.
Der Papst hat gesagt: Die Homosexuellen sind genauso Kinder Gottes wie alle anderen. Der Papst hat gesagt: Wer bin ich, um über einen Homosexuellen ein Urteil zu fällen? Der Papst hat einen Transsexuellen, wie Sie gesagt haben, in den Vatikan eingeladen. Was bedeutet das? Es ist ein ganz klares Zeichen, dass er die Homosexualität nicht verteufelt. Der Papst hat auch gesagt, dass er nicht für eine Ehe für die Homosexuellen ist, aber für das, was wir so in Italien eine zivile Partnerschaft benennen.
Liberale Priester fühlen sich bestärkt
Was bedeutet das? Dass jetzt jeder Priester und jeder Pfarrer, der eben offen ist, sich vom Papst bestärkt fühlt. Früher fühlten sich die Priester immer vom Vatikan beobachtet, sie hatten immer Angst: Was wird jetzt passieren? Was wird die Obrigkeit sagen? Der Papst hat schon ein klares Zeichen gegeben. Nun ist dieses bürokratische Dokument von der Glaubenskongregation gekommen, das sagt: Also, man kann die gleichgeschlechtlichen Paare nicht segnen, aber man kann die einzelnen Menschen segnen. Dieses Dokument wird in zwei, drei Jahren vergessen sein.
Ley: Sie haben vorhin schon angesprochen: Es gibt viele in der Kurie, im Vatikan, auch in der Weltkirche, die sich doch sehr deutlich gegen Papst Franziskus und seinen Reformkurs aussprechen. Sie haben diese Menschen teilweise sogar als Wölfe beschrieben, von denen der Papst umzingelt ist. Er ist einer, der sich gegen seine mächtigen Gegner nicht durchsetzen konnte. Wer genau sind diese Gegner und worin genau besteht ihre Macht?
Politi: Es gibt Gegner, die sehr offen auf der Bühne agieren. Zum Beispiel Kardinal Müller, der ehemalige Präfekt der Glaubenskongregation, der US-amerikanische Kardinal Burke, auch Kardinal Sarah. Vorher, jetzt ist er gestorben, Kardinal Meisner.
Gegner fürchten "Protestantisierung der Kirche"
Das sind alles Persönlichkeiten, die sind sozusagen die Spitze eines Eisbergs. Diese Persönlichkeiten sprechen sich offen gegen den Papst aus. Aber hinter diesen Persönlichkeiten gibt es viele Bischöfe, Theologen, engagierte Laien und auch Priester, die derselben Meinung sind. Die haben Angst vor einer sogenannten Protestantisierung der Kirche und stemmen sich gegen den Papst. Vor allem sind sie sehr aktiv im Internet. Auf den Webseiten kann man sehr viele aggressive Töne gegen den Papst hören.
Dieser harte Kern von 30 Prozent stützt sich auf eine Masse, die sehr passiv ist. Die auch guten Gewissens ist, aber Angst vor Neuerungen hat. In der Versammlung der Französischen Revolution wurde diese stille Mitte immer der Sumpf genannt. Dieser Sumpf gibt den Konservativen die Stärke, um sich gegen den Papst zu stemmen.
Konservative Kräfte überwiegen
Ley: Ist das nicht ein bisschen zu leicht? Macht man es dem Papst Franziskus damit ein bisschen zu leicht, dass man ihn als Opfer dieser sehr starken, übermächtigen Gegner darstellt. Ist das die ganze Wahrheit? Oder ist da auch noch etwas anderes? Gibt es nicht vielleicht auch in ihm einen Kern, der vielleicht doch konservativer ist, als wir uns das vorstellen?
Politi: Ich würde mich auf die Meinung eines großen kritischen Theologen stützen, der leider gestorben ist: Hans Küng. Der sagte – er hat es mir noch persönlich ein paar Monate vor seinem Tod gesagt: In heutiger Zeit, wenn man ein Konzil einberufen würde, würde es ein konservatives Konzil sein. Denn die Mehrheit der Bischöfe, die von Johannes Paul II. und von Papst Ratzinger ernannt wurden, sind doch im Grunde sehr konservativ. Deswegen würde das nicht zu Reformen führen.
Man vergisst, dass man die Kirche einfach nicht so mit einem Diktat regieren kann. Es ist nicht ein Problem von der Persönlichkeit des Papstes. Man muss den Papst nicht als einen Helden sehen, als eine Art Siegfried-Figur. Es ist das Problem: Wie sind die Menschen innerhalb der Kirche? Wie sind die die Bischöfe? Das sind doch die großen Würdenträger in der Weltkirche.
Spaltung in der Kirche
Ley: Nun gibt es auch die Sorge bei einigen, dass das im schlimmsten Fall zu einer Spaltung führen könnte und dass das vielleicht auch einer der Gründe ist, warum Franziskus in einigen Reformbemühungen vielleicht nicht zurückgerudert, aber doch vielleicht wieder einen Schritt zurückgegangen ist, ein bisschen Druck rausgenommen hat. Wie groß ist aus Ihrer Sicht die Gefahr einer solchen Spaltung in der Kirche?
Politi: Es gibt schon eine praktische Spaltung in der Kirche. Das sieht man, wenn man die Websites sieht, wenn man sieht, wie sich die Gegner von Franziskus bewegen. Diese Spaltung existiert schon. Ich glaube nicht, dass es zu einer offenen Spaltung kommt. Aber ganz bestimmt bremst der Papst selbst, weil er eine Spaltung fürchtet, weil er nicht eine Spaltung hervorbringen will.
In diesem Sinne ist bestimmt Franziskus auf Zickzackkurs. Er geht manchmal voran. Er geht manchmal zurück. Das sieht man ganz klar in der Frage der Frauen. Der Papst hatte eine Kommission einberufen, um über das Diakonat der Frauen zu studieren. Die Kommission war total gespalten, so wie die Kirche gespalten ist.
Frauenförderung per "Schildkrören-Strategie"
Also hat der Papst keinen Schritt vorangemacht, aber gleichzeitig eben in einer Schildkröten-Strategie, wie ich es nennen würde, hat er angefangen in der Kurie Frauen in leitende Position zu bringen.
Im Staatssekretariat ist zum ersten Mal eine Frau Generalsekretär im Governatorats des Vatikan, also des Staates des Vatikan. Zum ersten Mal ist eine Frau Untersekretärin der Bischofssynode. Das ist das erste Mal, dass eine Ordensschwester, Natalie Bäcker, auch in der Synode abstimmen wird. Zum ersten Mal ist eine Ordensschwester Sekretärin eines Dikasteriums.
Das sind alles konkrete Schritte, die der Papst macht, weil er im großen Feld, also der Möglichkeit eines Frauendiakonats, heute nicht vorangehen kann. Oder nicht will, weil er eine Spaltung fürchtet.
Reformhoffnungen richten sich auf Weltsynode
Ley: Ich würde gern zum Ende des Gesprächs wieder auf die Gegenwart zu sprechen kommen. Wir hatten angefangen mit dieser Szene zu Beginn der Coronapandemie. Mich würde interessieren: Wie hat die Pandemie den Papst verändert? Werden wir vielleicht in den kommenden Jahren noch mal einen anderen Papst sehen als den, den wir bis jetzt gesehen haben?
Politi: Für den Papst war die ganze Lockdown-Geschichte, wie in einem Kerker zu leben. Das hat er selbst gesagt. Er weiß, dass er im Herbst des Pontifikates ist. Er hat schon gesagt, wenn er nicht mehr physisch fit ist, dann wird er auch zurücktreten so wie Ratzinger. Der Papst hat alles auf diese große Weltsynode gesetzt, die zwei Jahre dauern soll. Im ersten Jahr sollte man die Basis anhören, also die Pfarreien, die Diözesen: Was denken, was fühlen die Christen? Was fordern Sie von der Kirche? Dann soll es kontinentale Synoden geben und dann die große Weltsynode.
Also, dieser große Besinnungsprozess, dieser große Erneuerungsprozess hängt sehr von den Bischöfen in der ganzen Welt ab. Der Kirchenhistoriker Andrea Riccardi hat in seinem Buch „Die Kirche brennt“ gezeigt, dass die ganze katholische Kirche in einem großen Transitionsprozess ist, wo die Strukturen immer schwächer werden, wo auch die Anhängerschaft von den jungen Leuten immer loser ist. Die jungen Leute entfernen sich von den Strukturen der Kirche, aber auch der von der symbolischen Organisation der Kirche. Ob es nun einen großen Reformsprung geben wird oder nicht, hängt von dieser Synode ab. Das hängt von den Bischöfen und den engagierten Laien in der Weltkirche ab.
„Franziskus wird nicht auf den Tisch hauen“
Ley: Welche Hoffnung setzen Sie ganz persönlich auch in diesem Prozess? Wird das der Moment, wo Franziskus nach seinem Zickzackkurs und einem Schritt zurück und einem Schritt nach vorne doch noch mal auf den Tisch haut und vielleicht zum Ende im Spätherbst seines Pontifikats diese Reformen, die sich viele so dringlich erhoffen, doch noch mal durchsetzen wird?
Politi: Als Beobachter hege ich nie Hoffnungen, als Beobachter analysiere ich, was passiert. Franziskus wird ganz bestimmt nicht auf den Tisch hauen. Denn der synodale Prozess ist ein Moment, wo sich das Parlament der Kirche aussprechen muss. Deswegen bin ich fest der Meinung, dass es Fortschritte geben kann, wenn endlich die Bischöfe in der Welt den Mut und die Courage haben, radikale Vorschläge zu machen.