Parag Khanna: Unsere asiatische Zukunft
Rowohlt, Berlin 2019
496 Seiten, 24 Euro
Das Modell von Morgen
06:49 Minuten
Asien funktioniert anders als der alte Westen, schreibt Parag Khanna: flexibler, pragmatischer, besser. Dass der Westen von gestern und Asien das Modell von Morgen sei, steht für den Politikwissenschaftler außer Frage. Eine gute Nachricht?
Manchmal genügt ein Bild, um eine ganze Kette von Argumenten vorwegzunehmen. Parag Khanna stellt seinem Buch eine Landkarte des asiatischen Kontinents voran, unkommentiert, aber so eng eingefasst, dass der Rahmen zu platzen droht. Europa, das geografische Anhängsel im Westen, ist abgeschnitten, und auch Afrika und Australien liegen weit außerhalb des Kartenausschnitts – obwohl der Autor sie alle gern einbezieht in seine Beschreibung einer pazifischen und immer mächtiger werdenden Alternative zu den Mustern und Strategien des alten Westens. Asien, so seine These, funktioniert nach anderen Regeln: flexibler, pragmatischer. Sogar das Kino ist besser. Und die Mode.
Um den Unterschied deutlich zu machen, nimmt er gern auch mal den ganz breiten Stift: "Generell trachten Asiaten nicht nach Eroberung, sondern nach Achtung. Genügend Respekt für die Interessen des jeweils anderen reicht."
Zahlen, die in Europa Schnappatmung auslösen
Der Autor widmet das Buch seinen Nachbarn. Es sind fünf Milliarden, zwei Drittel der Weltbevölkerung, die Hälfte der globalen Wirtschaftskraft. Als hätte der Blick auf die riesige Landmasse zwischen Sibirien und dem arabischen Golf nicht schon genügt, bei einem Bewohner Europas Schnappatmung auszulösen.
China ist auch auf der Karte, natürlich. Es liegt mittendrin. Aber deutlich wird doch: Selbst dieser Gigant repräsentiert neben Indien, dessen Ökonomie noch schneller wächst, und dem südostasiatischen Raum, in dem noch mehr internationale Investoren mit noch größeren Summen Fuß zu fassen suchen, neben Russland, der Türkei, dem Iran und als Musterfall einer pragmatisch orientierten und erfolgreichen Erneuerung Singapur – selbst China repräsentiert nur einen Teil dieser riesigen Macht. Khannas Rat also an den Westen: Schaut nicht auf die Länder, schaut auf die Zusammenhänge.
Was aus der vorangestellten Landkarte ebenfalls deutlich wird: Der Politikwissenschaftler und Strategieberater will überzeugen. Er sieht sich als Vertreter einer neuen Zeit. Und wer in seiner Argumentation für die Vergangenheit steht – daran lässt er keinen Zweifel: "Das politische System der Vereinigten Staaten bildet für den Westen keineswegs das Vorbild einer guten Regierungsgewalt. Gemessen am Durchschnittseinkommen ist der Lebensstandard in den USA gesunken. Zugleich geht es auch in der Bildung, der Gesundheitsvorsorge, der öffentlichen Sicherheit und in anderen Bereichen bergab. Wenn die angloamerikanische politische Konstellation vom Kurs abkommt, könnte sie von den führenden Systemen Asiens lernen, die sich auf eine langfristige Vision und kollektiven Nutzen konzentrieren statt auf kurzfristigen Hyperindividualismus und enge Sonderinteressen."
Schadenfreude mag Khanna sich nicht verkneifen
Parag Khanna, Jahrgang 1977, ist in Indien geboren und aufgewachsen; er hat in den USA und in England studiert, berät internationale Organisationen in Fragen der globalen Ökonomie und Politik und lehrt an der Universität in Singapur. Er ist ein echter Kosmopolit – aber er bezieht eindeutig Stellung. Nach dem 19. Jahrhundert, in dem Kolonialmächte wie England die Geschicke der Weltpolitik bestimmten, und dem 20., das sehr deutlich vom Expansionsbedürfnis der Amerikaner bestimmt war, ist das 21. Jahrhundert längst auf dem Weg. Und Khanna ist sicher: Es wird Asien gehören. Ein bisschen Schadenfreude kann er sich nicht verkneifen: "Tatsächlich trösteten sich im Nachspiel des Brexit-Referendums mehrere britische Minister mit dem Gedanken, dass das Vereinigte Königreich das 'Singapur Europas' werden könnte – welche Ironie der Geschichte, dass sie sich eine ehemalige Kolonie zum Vorbild nehmen!"
Kenntnisreich und dramaturgisch geschickt erzählt
Khannas Werk ist ein Wälzer, beladen mit Daten und Fakten, mit ökonomischen Kennwerten und Schaubildern, die nicht immer auch erläutern, was sie abbilden. Ein Register im Anhang fehlt schmerzlich.
Beschämend aber der Spiegel der Unkenntnis, den der Welterklärer seinen Lesern vorhält. Mal ehrlich: Wer kennt sich aus in den vier- oder sechstausend Jahren der Geschichte dieses Kontinents, in der Vielfalt seiner Kulturen, den Wanderungen seiner Völker, in der spirituellen Tiefe seiner Philosophie? Und wer vor allem in den ökonomischen und strategischen Projekten, den globalen Netzwerken, die lange vor Amtsantritt des großen Alleinentscheiders im Weißen Haus geknüpft wurden und seither, je nach Perspektive, in faszinierender oder beängstigender Beschleunigung das amerikanische System isolieren und widerlegen? Khanna ist ein dramaturgisch versierter Erzähler, ein kenntnisreicher, bisweilen auch ein triumphierender Lehrer.
Blick auf Chinas Umgang mit Minderheiten irritiert
Und doch irritiert die Sorglosigkeit, mit der er die politischen Friktionen etwa zwischen China und seinen Minderheiten und Nachbarn, in Hongkong, Korea oder den islamischen Ländern seinem unbeirrbar optimistischen Narrativ anpasst: "In Saudi-Arabien hat Kronprinz Mohammed bin Salman ein breites Liberalisierungsprogramm eingeleitet, insbesondere mit Blick auf die Rechte der Frauen. In Pakistan hat die Regierung radikalen islamistischen Gruppierungen politische Kampagnen verboten, und eine wachsende Zahl der Stadtbewohner bezieht gegen islamistische Einschüchterungsversuche Stellung. Anders als im 14. Jahrhundert blickt Westasien heute zu den Erfolgen Ostasiens auf – und zieht daraus Lehren, wie es gelingen könnte, den politischen Islam von Ost nach West fließen zu lassen."
Fürchtet euch nicht, lautet Khannas Botschaft an uns Bewohner der Welt von gestern. Lasst euch ein auf Sushi und auf die Filme aus Bollywood. Denn Hollywood hatte lange genug das Monopol auf unser aller Moral und Ästhetik. Tragt Issey Miyake oder Uniqlo und gewöhnt euch an das Leben in einer Welt, in der Menschen und Ideen wandern, sich verändern und neue Verbindungen knüpfen. Für den alten Westen, so meint Khanna, seien das lauter gute Nachrichten.