Karlheinz Stierle: "Pariser Prismen. Zeichen und Bilder der Stadt."
Edition Akzente/ Hanser Verlag / München 2016.
366 Seiten, 24,90 Euro
Die Stadt als Text
Die "Pariser Prismen" interpretieren eine Stadt, die es längst nicht mehr gibt. Den heutigen zersplitterten Lebenswelten der französischen Hauptstadt wird Autor Karlheinz Stierle nicht gerecht. Das Werk ist ein Schwanengesang wider Willen.
Als im Jahre 1993 Karlheinz Stierles voluminöses Werk "Der Mythos von Paris" erschien, merkte nicht nur die Fachwelt auf. Der Konstanzer Romanist beschrieb in seiner breit angelegten Untersuchung die französische Hauptstadt als Magnetfeld, das seit alters her Dichter und Romanciers inspirierte - die Stadt als Text.
Das Buch wurde auch zum Publikumserfolg, obwohl die präsentierte Pariser Stadtliteratur bereits mit Charles Baudelaire endete. Über zwei Jahrzehnte später legt nun Karlheinz Stierle, geboren 1936 und längst emeritiert, eine Art Fortsetzung vor: "Pariser Prismen. Zeichen und Bilder der Stadt".
Balzac statt Banlieues
Das ist literaturhistorisch zweifellos spannend und auch gründlich recherchiert: die Geburt des Großstadtromans à la Balzac, dessen naturalistische Fortführung bei Émile Zola und die Spuren des 20. Jahrhunderts in den Büchern von Georges Perec. Doch vieles fehlt.
Wo ist das Paris des Nobelpreisträgers Patrick Modiano, das melancholisch verschattet von den Aufbruchsjahren um 1968 erzählt und sich überdies auf Spurensuche begibt nach den Opfern, Tätern und Mitläufern der deutschen Besatzung? Wo bleibt Michel Tourniers im "afrikanischen" Viertel Barbès spielender Roman "Goldtropfen"? Und lassen sich die jenseits des bourgeoisen Paris angesiedelten Romane von Juan Goytisolo tatsächlich dem "Anti-Mythos" einer "Multikultiwelt" zuschlagen, der jedoch - wie angeblich auch jegliche Beschreibung der konfliktträchtigen Banlieues - "marginal" bleiben müsse, da es ihm an "Kohärenz" gebreche?
Multi-ethnische Millionenstadt, kein Mythos
Mit Verlaub: Das ist professorale Ohrensessel-Prosa, und die notwendige Kritik an solchen Anachronismen ist keiner politischen Korrektheit geschuldet, sondern dem Leser-Interesse an einer Millionenstadt, die als Labor multi-ethnischen Zusammenlebens und immenser politischer und sozialer Probleme längst nicht mehr mit dem Kuschelwort des "Mythos" zu fassen ist.
Nichts spricht dagegen, einem lebenslang beackerten Forschungsthema noch einige Aspekte hinzuzufügen - umso mehr, als dieses broschierte Buch ansprechende Illustrationen von Daumier, Giacometti und Sempé schmücken, die der Autor kenntnisreich interpretiert "mit der Frage nach Affinität und Differenz von Stadtzeichen und Stadtzeichnung". Gleichwohl wäre von einem Text, der "Bruchstücke einer Archäologie des Stadtbewusstseins" präsentieren möchte, etwas mehr zu erwarten. Die zersplitterten urbanen Lebenswelten und ihre literarischen Resultate sind mit altmeisterlichen Interpretationsinstrumenten, wie sie hier - vielleicht zum letzten Mal - hergezeigt werden, gewiss nicht mehr zu fassen. Wider Willen und durchaus rührend wird dieses Buch damit beinahe zu einem Schwanengesang.