Damian Hieronymus Johannes Freiherr von Boeselager, 31, ist Unternehmensberater, Journalist und Politiker. Bei der Europawahl 2019 wurde er für die Partei Volt Deutschland ins EU-Parlament gewählt. Er studierte an der Universität Bayreuth Philosophie und Wirtschaft und schloss den Masterstudiengang Öffentliche Verwaltung an der Hertie School of Governance in Berlin an. 2017 gründete Boeselager gemeinsam mit Andrea Venzon aus Italien und Colombe Cahen-Salvador aus Frankreich Volt Europa als "paneuropäische", "pragmatische" und "progressive" Partei. Er ist Vizepräsident von Volt Europa.
Auf einmal mit Berlusconi, Strache und Farage in einem Raum
29:32 Minuten
Die erhoffte Fraktionsstärke hat die neue Partei Volt verfehlt. Einen "krassen Erfolg" nennt der einzige Abgeordnete von Volt seine Wahl ins EU-Parlament. Damian Boeselager trifft auf Parlamentskollegen, die gegen alles sind, wofür er steht.
"Unsere Ergebnisse europaweit machen mich extrem stolz", sagt Damian Boeselager. Zwar ist mit ihm nur einer von 146 Kandidaten der jungen gesamteuropäischen Partei ins neue EU-Parlament gewählt worden. Dafür reichten ihm 250 000 Stimmen in Deutschland. Aber er ist immerhin der einzige der insgesamt 751 Abgeordneten, der auch in Bulgarien und den Niederlanden und weiteren fünf Ländern, wo Volt antreten konnte, gewählt wurde. Seine Partei hatte überall das gleiche Programm und die gleichen Kandidaten zur Wahl gestellt.
Die Hürden der verschiedenen Wahlgesetze sind für Neuparteien teilweise fast unüberwindbar hoch. Das zu ändern, ist eines der Ziele, die der frisch gebackene Abgeordnete im Gepäck nach Straßburg hat.
Den Grünen oder den Liberalen anschließen?
Jetzt geht es erst einmal darum, sich der passenden Fraktion anzuschließen, denn "als Unabhängiger im Europäischen Parlament kann man fast gar nichts bewegen". Alle Fraktionen werben um die Neuparlamentarier, denn angesichts der Tatsache, dass es erstmals keine informelle Große Koalition mehr gibt, zählt in jeder Fraktion jede Stimme.
Die Partei muss nun entscheiden, ob Boeselager bei den Grünen oder bei den Liberalen besser aufgehoben ist. Irgendwo zwischen diesen beiden Parteienfamilien lässt sich Volt programatisch einordnen.
"Wir wollen die EU so reformieren, dass sie funktioniert", sagt Boeselager. Dazu gehört, dass das Parlament ein Inititativrecht bekommt und selbst Gesetze auf den Weg bringen kann. Perspektivisch will Volt auch eine/n "europäische MinisterpräsidentIn" in einem föderalen Europa. Ohne einen einstimmigen Beschluss der Regierungen aller EU-Länder bleibt das Zukunftsmusik. Und weil das momentan ausgeschlossen scheint, sollte die Einstimmigkeit im Rat der Regierungen komplett abgeschafft werden. Allerdings: Das geht nur eintimmig.
Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Herr Boeselager, sie haben Volt zusammen mit anderen als gesamteuropäische Partei vor zwei Jahren gegründet, ziehen jetzt als Einziger von 146 Kandidaten europaweit ins Parlament für Volt ein. Die junge Partei hatte sich ein sehr ehrgeiziges Ziel für diese Europawahlen gesteckt. Sie wollten auf Anhieb Fraktionsstärke erreichen, das heißt, mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Ländern. Das hat erkennbar nicht geklappt, und zwar so ganz und gar nicht. Wenn dieses Ziel tatsächlich ernstgemeint war, dann erleben Sie gerade einen typischen Fall von Selbstüberschätzung?
Damian Boeselager: Man muss dazu sagen, dass wir zu dritt vor zwei Jahren angefangen haben, diese Partei aufzubauen. Am 29. März 2017 haben wir uns gegründet, an dem Tag, an dem Brexit-Artikel 50 eingereicht wurde. Da war unser Ziel: Wir bauen eine europäische Partei auf und wir werden mit 25 Sitzen das erste Mal ins Europäischen Parlament als gemeinsame Partei einziehen, mit dem gleichen Namen, mit dem gleichen Logo.
Deutschlandfunk Kultur: Und das war ganz ernstgemeint oder eher unter dem Motto, na ja, ruhig mal nach ein paar Sternen greifen, besser als tiefstapeln?
Boeselager: Wenn man zu dritt da sitzt und fragt, warum man das macht. Weil man sieht, dass wir tatsächlich europäische Politik brauchen, um die europäischen Probleme zu lösen. Wenn man dann sagt, "wir versuchen, das mal als unsere Zielsetzung zu nehmen und dann loszulegen", dann weiß ich nicht, ob das nach den Sternen greifen ist. Ich meine, wir haben es in der Zeit irgendwie geschafft, tatsächlich in acht Ländern anzutreten. Wir haben unsere Partei in 14 EU-Ländern registriert. Wir haben jetzt 45.000 Mitglieder. Für mich ist das ein krasser Erfolg. Ob es dann genau diese 25 sind, die das Ziel waren oder nicht – ich bin auch so ganz zufrieden mit dem Ergebnis.
Brüssel aufmischen?
Deutschlandfunk Kultur: Aber es ist nur einer geworden, Sie selbst. Und als einer ist man ziemlich allein. Also, wie es mal hieß, "wir werden Brüssel aufmischen", das wird erkennbar nicht passieren.
Boeselager: Mal sehen. Es ist tatsächlich so, dass ich der einzige europäische Parlamentarier bin, der von Leuten gewählt wurde, über die nationalen Grenzen hinaus, auch wenn diese Stimmen mir nicht geholfen haben, ins Europäische Parlament einzuziehen – das waren nur die 250.000 aus Deutschland – ist es trotzdem so, dass da nochmal 250.000 Leute überall in Europa für mein Programm oder für unser Programm und für diese Politik gestimmt haben.
Das heißt, in Paris, in irgendwo kleinen Städten in Bulgarien haben Leute gefeiert, als ich diesen Sitz bekommen habe. Und das ist für mich ein krasser Erfolg für die europäische Demokratie.
Deutschlandfunk Kultur: Also, wenn es das gebe, länderübergreifende gemeinsame Listen, die dann auch gemeinsam überall gewählt werden könnten, ohne dass sie nationale Wahlbestimmungen und nationale Wahlsysteme bedienen müssen, dann hätte das anders ausgesehen?
Boeselager: Dann hätten wir auf jeden Fall sehr viel mehr Leute reinschicken können. Aber es gibt noch einen wichtigen Grund, warum wir auch nicht mehr Leute reingeschickt haben: Das sind tatsächlich die Hürden der Demokratie, die in den einzelnen Ländern bestehen. Es ist ein absoluter Wahnsinn, wenn man sich das anschaut, wie schwer es in manchen Ländern ist, eine Partei zu registrieren – das ist der erste Schritt – und wie schwer es ist, in manchen Ländern zu den Europawahlen zugelassen zu werden.
In Italien zum Beispiel braucht man 150.000 Unterschriften, die gegeben werden mussten mit einem Notar, der auf dem Platz sitzt und das abzeichnet, während die Unterschrift gegeben wird. Das hat in der Zeit, in der dieses Gesetz existiert, noch keine Partei geschafft. Die kaufen sich da immer irgendwelche alten Logos von irgendwelchen Parteien, um antreten zu können. Das ist ein Schwachsinn. Und das ist auch eine der Aufgaben, die ich mir gestellt habe, das irgendwie anzugreifen und zu verändern.
In Frankreich braucht man eine Million Euro, weil man seine Wahlzettel selbst drucken muss und selbst an die Wahlämter schicken muss. Das heißt, um überhaupt physisch gewählt werden zu können, muss man seine Wahlzettel selbst drucken. Das ist der Wahnsinn, der da in Europa tatsächlich existiert. Ich glaube, wenn man da hinkommt und diese Hürden auch absetzen kann, dann könnten wir auch sehr viel erfolgreicher sein.
Schwachsinnige Hürden für neue Parteien abbauen
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben in Deutschland mit Ihrer Partei, mit Volt, 0,7 Prozent der Stimmen bekommen, in anderen Ländern sogar etwas mehr, aber in Deutschland reicht es für einen Sitz, weil Deutschland 96 Sitze im EU-Parlament zu vergeben hat.
Vielleicht ist eine Hürde, die Sie übersprungen haben, sogar noch wichtiger für die Zukunft der Partei, gar nicht diese 0,7 Prozent mit dem Sitz, sondern die 0,5 Prozent, derer es bedarf für die Parteienfinanzierung. Da Sie sich weitere große Ziele gesetzt haben, dass Volt bei allen Wahlen, nicht nur bei Europawahlen und in möglichst allen EU-Ländern tendenziell antreten wollen, ist das natürlich wichtig. Irgendwie muss es ja finanziert werden.
Boeselager: Also, ganz kurz zu den anderen Erfolgen: Diese zwei Prozent in den Niederlanden und Luxemburg machen mich extrem stolz, weil zwei Prozent einer Wahlbevölkerung davon zu überzeugen, eine neue positive Partei zu wählen, die einfach sagt, wir versuchen das jetzt europäisch, finde ich total genial. Ich bin total stolz auf den Wahlkampf, den wir da gemacht haben. Es war einfach richtig gut.
Parteifinanzierung ist natürlich etwas, worüber sich unser Schatzmeister freut, weil wir jetzt in der Lage sein werden, zumindest mal eine Kraft anzustellen, die die administrativen Aufgaben erledigt, weil wir da bis jetzt eigentlich nur Volontäre gearbeitet haben. Und das jetzt langsam in Strukturen zu überführen, die auch Angestellte haben, die fester funktionieren, das ist auch für uns ein großer Schritt.
Künftig bei allen Wahlen antreten
Deutschlandfunk Kultur: Und dann tendenziell bei nationalen Wahlen, bei kommunalen Wahlen antreten und in allen EU-Ländern – ich meine, das ist ein Brocken, den Sie sich da vorgenommen haben.
Boeselager: Aber deswegen haben wir es auch jetzt schon gemacht. Wir sind in Wachenheim und in Mainz tatsächlich in die lokalen Stadträte rein gewählt worden und haben für mich damit einen krassen Erfolg gehabt, der genauso wichtig ist wie dieser europäische Parlamentariersitz. Wir haben damit gezeigt, dass es eben genau diese Idee ist: Man hat lokal eine Partei. Die heißt Volt. Und dann sollte es eben auch auf europäischer Ebene die Partei geben.
Wir sind auch in Modena angetreten und lokal in Bulgarien. Die Idee ist tatsächlich zu sagen: "Okay, auf einem gemeinsamen Grundsatzprogramm, was europaweit von Europäern gemeinsam geschrieben ist, werden auch lokal und regional, national Leute antreten."
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt sind Sie einer von 751 Abgeordneten. Es bietet sich an, sich einer Fraktion anzuschließen. Das gibt mehr Rechte, gibt mehr Finanzen, gibt Mitarbeiter. Aber welcher? Ich sehe Sie inhaltlich, thematisch bei den Liberalen – Macron-Bewegung, ehemalige ALDE, jetzt Renaissance – vielleicht, mit einem ordentlichen Schuss Grüne. Wissen Sie schon, wo Sie hinwollen?
Boeselager: Der Erkenntnisprozess, den ich durchlaufen bin und den auch viele unserer Mitglieder durchlaufen, ist zu verstehen, dass man als Unabhängiger im Europäischen Parlament fast gar nichts bewegen kann. Es ist tatsächlich so, dass das Parlament so aufgebaut ist, dass die Leute, die in Gruppen sind, bevorzugt werden und auch Gesetze umsetzen können usw. und an legislativen Vorhaben arbeiten können. Deswegen gibt es natürlich großes Interesse zu entscheiden, in welche Gruppe man gehen könnte, die uns am besten ermöglicht, unser Programm umzusetzen?
Deutschlandfunk Kultur: Und welche wird es sein?
Boeselager: Ich gehe noch ganz kurz aufs Programm ein und dann beantworte ich Ihre Frage. Das Programm ist aufgebaut als EU-Reform. Wir wollen gern die EU so reformieren, dass sie funktioniert. Ich hatte kurz schon übers Wahlrecht geredet. Und das zweite große Thema ist eine zukunftsfähige Wirtschaftspolitik. Und das dritte Thema ist eine nachhaltige und gerechte Gesellschaft, europäisch Klimawandel bekämpfen und tatsächlich auch ein europäisches Migrations- und Asylsystem aufzusetzen.
Da haben Sie Recht. Da gibt es genau zwei Gruppen, die theoretisch möglich wären. Das wären die Liberalen und die Grüne. Für uns ist es so, dass ich ein Verhandlungsmandat bekommen habe für diese beiden Gruppen. Ich komme gerade aus Brüssel und habe da verhandelt, welche Gruppe von denen uns am ehesten möglich machen wird, unser Programm umzusetzen, was ich vorgestellt habe.
Fraktionen werben um jeden einzelnen Abgeordneten
Deutschlandfunk Kultur: Aber da kommen Sie auch als Einzelner. Sie sind eben nicht zu dritt, zu viert, zu fünft, zu siebt, sondern alleine. Da werden die sich kein Bein ausreißen, um Sie aufzunehmen.
Boeselager: Die Gruppen haben eben wegen der Mehrheitsverhältnisse ein extremes Interesse daran, um jeden einzelnen Parlamentarier zu kämpfen. Die Angebote sind sehr werbend. Eigentlich fast jede Gruppe hat uns angeboten, bei ihnen mitzumachen. Das ist so, dass wir da zumindest am Anfang eine ganz gute Verhandlungsbasis haben.
Deutschlandfunk Kultur: Sie schwanken noch?
Boeselager: Wir haben die Angebote auf dem Tisch. Was jetzt passiert, ist, dass die Mitglieder europaweit darüber abstimmen, was sie wollen. Wollen sie, dass sie unabhängig bleiben? Wollen sie, dass wir zu den Grünen dazu gehen? Oder wollen sie, dass wir zu den Liberalen gehen? Das sind die drei Möglichkeiten, über die abgestimmt wird. Ich glaube, das ist auch ein total schönes Zeichen für europäische Demokratie, dass unsere Bewegung europaweit darüber abstimmt und nicht nur irgendwie aus Deutschland, sondern tatsächlich alle gemeinsam sagen: Okay, wir wollen, dass Volt in diese oder jene Fraktion geht oder eben unabhängig bleibt.
Deutschlandfunk Kultur: Das "Manager-Magazin" hat geschrieben, mit Ihnen "kommt McKinsey-Geist in das EU-Parlament." Sie haben für McKinsey gearbeitet. Sie haben einen Bachelor in Philosophie und Wirtschaft, einen Master in Öffentlicher Verwaltung. Können Sie damit was anfangen oder ist es Blödsinn?
Boeselager: Das ist ein Label, was man nicht so leicht los wird. Für mich war das eine total tolle Zeit, weil ich vor allem im sozialen und öffentlichen Sektor gearbeitet habe und strukturiert Denken gelernt habe und ein bisschen verstanden habe, wie man schnell Dinge umsetzen kann.
Deutschlandfunk Kultur: Man merkt dem Programm von Volt an – deshalb schwanken Sie noch zwischen den Liberalen, wo es auch zum Teil Wirtschaftsliberale sind, die in der Fraktion sind, und den Grünen –, dass da schon unternehmerisches Denken und auch ein unternehmerisches Interesse drin ist.
Boeselager: Ich glaube, was man viel mehr sieht, ist, dass dieses Programm – das ist vielleicht auch ein Teil unseres Pragmatismus, den wir versuchen, irgendwie anzuwenden – sehr darauf bedacht ist, die richtigen Argumente zählen zu lassen. Als wir es geschrieben haben, haben wir uns hingesetzt und uns ganz am Anfang einfach nur gefragt: "Was sind die großen Themen und die Themen, die uns wichtig sind". Wir haben die alle aufgeschrieben als Frage. Und dann haben wir gesagt: "Okay, welche Antworten gibt es denn in Europa schon? Gibt es irgendwie zum Beispiel in Estland eine gute Digitalisierung des Staates, die uns vielleicht helfen würde, das eben auch europaweit besser zu machen?" Das ist der Ansatz, den wir gewählt haben. Das würde man im Beratersprech "Best Practices" nennen, dass man sagt: "Was sind denn wirklich die Dinge, die schon funktionieren? Und wie können wir die am ehesten politisch umsetzen?"
Viele "rein verwaltende Parteien" ohne Vision für die EU
Deutschlandfunk Kultur: Da muss ich aber doch noch wissen, warum Sie sich, wenn es Ihnen tatsächlich um Inhaltliches, Programmatisches geht, nicht von Vornherein als Unterstützergruppe der Grünen oder von mir aus der Liberalen gegründet haben. Warum brauchte es, den deutschen Wahlzettel betrachtend, noch eine 40. Partei? Ist ja alles irgendwo vorhanden.
Boeselager: Da hilft es, den Gedankenprozess zu verstehen, den wir durchlaufen sind: Wir saßen da mit einer Französin, einem Italiener und mir und haben uns unseren Kontinent angeschaut und gesagt: "Brexit passiert, in Amerika ist Trump am Start und es scheint immer mehr so diesen populistischen rechtsnationalen Weg zu gehen. Das ist nicht das, was wir wollen." Und gleichzeitig gibt es große europäische Themen. Viele sind bekannt – die Migration, aber auch Jugendarbeitslosigkeit, Klimawandel – wo ganz klar ist, die können wir nur gemeinsam europäisch lösen. Und dann gibt es viele rein verwaltende Parteien, die nicht eine wirkliche Vision für Europa haben. Das war unser Anfangsgedanke.
Und dann haben wir gesagt: "Okay, eigentlich müssten wir europaweit einen politischen Aufbruch schaffen, der mit einer positiven Vision und mit einer Vision eines besser integrierten Europas, zumindest, was diese großen Themen angeht, einhergeht."
Deutschlandfunk Kultur: Versuchen die anderen Parteienfamilien, die zwar nicht als europäische Partei funktionieren, aber Familien gründen, die sich dann schon auch eine europäische Plattform geben – die versuchen das alle auch.
Boeselager: Im Europäischen Parlament siegt oft die nationale Politik. Also, in den europäischen Fraktionen ist es so, dass tatsächlich nationale Abstimmungslisten aufgestellt werden. Das heißt, da stimmt dann innerhalb einer Gruppe die eine nationale Delegation anders ab als die Nachbarlanddelegation. Und wenn man sich dann den Rat der Regierungen anschaut, ist es ganz klar: einfach nationale Interessen.
Uns fehlt dieser europäische Ansatz. Deswegen haben wir so einen starken Wert darauf gelegt, das Programm gemeinsam mit Europäern zu schreiben.
Deutschlandfunk Kultur: Und im Vorwort dieses Programms steht der schöne Satz: "Im Vorfeld haben wir sichergestellt, dass alle im Wahlprogramm beschriebenen Vorhaben im Europäischen Parlament verwirklicht werden können." Das ist ein Stück Hochstapeln, weil da einige Punkte drinstehen, die schlechterdings nicht im Europäischen Parlament entschieden werden, die nur einstimmig im Rat, wo die EU-Regierungen zusammensitzen, entschieden werden können. Ich nenne nur mal eine Mindestbesteuerung für multinationale Konzerne oder die institutionellen Reformen, die Sie gerne haben möchten – tendenziell eine richtige europäische Regierung aus der Kommission machen – das alles kann das Europäische Parlament nicht umsetzen.
Boeselager: Wir haben darauf geachtet, dass es EU-Kompetenzen sind. Und diese Themen, zum Beispiel Mindestbesteuerung, ist tatsächlich etwas, was innerhalb der Binnenmarktvorschrift angegangen werden könnte. Natürlich gibt es dann den Rat. Der muss zustimmen …
"Wir wollen die Einstimmigkeit abschaffen"
Deutschlandfunk Kultur: Einstimmig, Steuersachen sind einstimmig!
Boeselager: Wir wollen die Einstimmigkeit abschaffen. Das müsste auch einstimmig passieren. Aber das sind alles Dinge, die möglich sind, wenn man daraufhin arbeitet. Wir wollten aber nicht irgendwas versprechen, was regionale oder nationale Kompetenz ist. Und wir haben tatsächlich die Parlamentsprogramme der anderen Parteien in der Vergangenheit analysiert. Da stehen Forderungen drin, die tatsächlich teilweise lokale Kompetenzen sind.
Beispiel Bildung: Da werden in dem europäischen Programm Sachen versprochen, wo man sich denkt, wie kommt ihr denn jetzt auf diese Idee? Für uns war wichtig, das sind Themen, da können wir Druck aufbauen, wenn wir im Europäischen Parlament sind. Und ja, wir können aus dem Parlament heraus Druck auf den Rat ausüben. Aber es sind Themen, wo wir tatsächlich auch innerhalb des Rahmens, der von der Kommission gegeben wird, dann auch wirklich Vorschläge machen können. Diese ganzen Themen sind tatsächlich Themen, die europäisch beschlossen werden könnten.
Deutschlandfunk Kultur: Ein Schuss Realismus kam rein bei der Forderung, dass man eine europäische Armee der Willigen möchte - also wissend, dass es dafür im Moment auf europäischer Ebene sicherlich keine Mehrheiten geben wird, eine europäische Armee zu gründen. Aber vielleicht gibt es ein paar, die das wollen.
Boeselager: Ich glaube, man fühlt so ein bisschen diesen Kampf, den wir auch intern hatten zwischen Visionen und dem, was jetzt für diese Legislaturperiode möglich ist. Wenn man sich unser Grundsatzprogramm anschaut, ist da ganz klar die europäische parlamentarische Demokratie drin. Wir wollen gerne, dass wir die europäischen Themen über eine europäische Premierministerin lösen können, die durch das Europäische Parlament …
"Wir wollen gern eine europäische Premierministerin"
Deutschlandfunk Kultur: Ein föderales Europa.
Boeselager: Ein föderales Europa, was tatsächlich subsidiär funktioniert, aber es funktioniert und eben nicht daran scheitert, die ganzen Themen anzugehen, wie es jetzt in den letzten Jahren war. Also, das ist das Ziel. Das ist unsere Vision.
Und wir haben jetzt gesagt: "Was können wir in diesem Europa-Wahlprogramm versprechen, was ambitioniert ist, aber möglich ist, mit den Kompetenzen, mit den Verträgen, die derzeit existieren."
Deutschlandfunk Kultur: Zwei gegenläufige Trends hat es gegeben bei den europäischen Wahlen. Zum einen, ein deutliches Engagement der Pro-Europäer, die Wahlbeteiligung hat zugenommen, und gleichzeitig ein erhebliches Erstarken der Rechtspopulisten und der Nationalisten.
Wie erklären Sie denn gerade den Pro-Europäern, wenn es wahrscheinlich ein monatelanges Schachern um die Nachfolge von Jean-Claude Juncker im Amt des Kommissionspräsidenten geben wird?
Boeselager: Grundsätzlich ist es ein politischer Prozess, darüber nachzudenken, wer der Nachfolger wird. Es ist an sich nicht verwerflich. Wie gesagt, mein Ziel ist, das hatte ich vorher auch schon gesagt, dass es zukünftig einfach übers Parlament bestimmt wird, einfach eine Mehrheitsentscheidung des Parlamentes sein wird.
Vergabe von Spitzenposten in Brüssel ist "spannender Prozess"
Deutschlandfunk Kultur: Aber so ist es nicht. Im Moment entscheiden hauptsächlich – unter Berücksichtigung der Wahlergebnisse – die Regierungschefs und -cheffinnen der EU-Länder. Da es da halt immer einen großen Ausgleich geben muss – Mann, Frau, rechts, links, geographisch, Ost, West und all das –, mag das vielleicht für Insider nachvollziehbar sein, aber für diejenigen, die sich nicht bis ins letzte Detail damit beschäftigen, wirkt es wieder so: "Mein Gott, die denken nur an sich. Die zerren um jeden Posten und es geht nur um Proporz."
Boeselager: Eigentlich ist es ein super spannender Prozess. Man hat die Regierungschefs, die eine gewisse politische Couleur haben. Und man hat das Parlament, was eine gewisse politische Zusammensetzung hat. Wenn man die Namen durchgeht, da wird immer darüber nachgedacht: "Okay, wer hätte denn eine Mehrheit dafür im Parlament, wer hätte eine Mehrheit bei den Regierungschefs?" Das ist eine spannende Frage.
Wenn man sich die Kandidaten dann anschaut, dann sieht man, dass die aus Sicht von diesen beiden Gremien alle Vor- und Nachteile haben, die ich gerade angesprochen habe. Zum Beispiel Frau Vestager, die Liberale, hat den Nachteil fürs Parlament, dass sie sich nicht an diesen Spitzenkandidatenprozess gehalten hat und die Liberalen gesagt haben: "Wir wollen gerne sieben Leute aufstellen und nicht einen." Damit ist eine Wahl vom Parlament für Frau Vestager eine Wahl gegen den Spitzenkandidatenprozess. Und damit schwächen sie diese Idee von immer mehr hin zu einer europäischen Demokratie.
Deutschlandfunk Kultur: Dann gibt es Timmermans, von den Sozialdemokraten aufgestellt. Es gibt den Deutschen Manfred Weber von der EVP, der Europäischen Volkspartei, aufgestellt. Wäre der für Sie wählbar?
Boeselager: Wir haben innerhalb der Bewegung nicht entschieden, wen wir unterstützen würden. Es ist für mich aber relativ klar, dass das nicht die präferierte Option ist.
Deutschlandfunk Kultur: Jede Stimme zählt, aber letztendlich dann eben auch nur eine Stimme.
Boeselager: Korrekt, es ist auch nur eine Stimme, die meine ist. Ich glaube, interessanter ist, darüber nachzudenken: Wird er das schaffen, ernannt zu werden? Da gibt es große Fragezeichen, auch weil die Konservativen nicht die krassesten Erfolge hatten. Es ist nicht ganz klar, glaube ich.
Anti-Europäer zwingen Pro-Europäer zu Zusammenarbeit
Deutschlandfunk Kultur: Schon im auslaufenden Parlament waren rund 20 Prozent zumindest EU-skeptisch, nicht alles EU-Gegner, aber EU-skeptisch. Die Rechtspopulisten und Nationalisten werden sich zu einer Fraktion zusammenschließen. Wenn sie das tun, haben sie erheblich mehr Einfluss. Wie wird man damit umgehen können? Reicht ein einfaches "Wir gegen die", also die Pro-Europäer gegen die Anti-Europäer? Macht man sich es da nicht ein bisschen zu leicht?
Boeselager: Das ist eine Frage, die sich gerade die Führungen im Parlament stellen. Inwiefern sollten auch Ausschüsse vergeben werden?
Deutschlandfunk Kultur: Wenn die sich zu einer Fraktion zusammenstellen, dann müssen sie auch Spitzenposten innerhalb des Parlaments bekommen.
Boeselager: Der Effekt, den ich sehe, ist positiv, dass sich die pro-europäischeren – die sind nicht alle pro-europäisch, aber pro-europäischeren – Parteien mehr gegenseitig zuhören müssen. Dadurch, dass diese klare Mehrheit von den Konservativen und den Sozialdemokraten so nicht mehr existiert, da sitzen jetzt tatsächlich die Liberalen und die Grünen noch mit am Tisch. Und man muss gemeinsam irgendwie Prioritäten für die nächste Legislaturperiode aufsetzen. Das ist ein ganz interessanter Nebeneffekt davon. Wie man wirklich dann im Parlament mit diesen Personen umgeht.
Deutschlandfunk Kultur: Darf man in Sachfragen mit ihnen zusammenarbeiten?
Boeselager: Das ist eine spannende Frage. Ich habe keine parlamentarische Erfahrung. Ich werde mich erstmal da hinbegeben und dann überlegen, wie ich am besten unser Programm umsetzen kann. Es ist ganz klar, dass diese Leute für uns ein extremer Gegenpol sind. Ich meine, wir sind irgendwie die positiven, pragmatischen, paneuropäischen Neupolitiker. Und da gibt es Herrn Strache, Herrn Berlusconi und Herrn Farage, die da sitzen. Da denke ich mir: Es kann einfach nicht sein, dass die in dem gleichen Raum mit einem sitzen und einfach seit Generationen Politik machen, die genau gegenläufig ist.
Deutschlandfunk Kultur: Ist nicht eine Entwicklung, die viel beunruhigender ist als diese – im Parlament sind die Pro-Europäer nach wie vor in der Mehrheit –, dass in der EU-Kommission und auch im Rat, also der Gruppe der EU-Regierungen, Rechtspopulisten, Nationalisten Sitz und Stimme bekommen werden? Denn in Italien, Polen und Ungarn stellen sie die Regierung und werden auch Kommissare, Kommissarinnen entsenden können bzw. eben bei den Gipfeln Sitz und Stimme haben.
Boeselager: Da muss man auch die einzelnen Charaktere anschauen und wird sehen, wer tatsächlich hingeschickt wird und inwiefern die in der Lage sein werden, wirklich destruktive Politik zu machen oder eben auch was Positives mitzugestalten. Es kommt dann, glaube ich, wirklich auf die Charaktere drauf an.
Mangel an Mitbestimmung macht EU unattraktiv
Deutschlandfunk Kultur: Volt fordert, mehr Demokratie zu wagen. Sie wollen das auch intern machen. Aber sie wollen auch, dass die Bürger tatsächlich mehr beteiligt werden über Onlineplattformen, über Hausparlamente etwa. Das sind kleine Gruppen, die das, was sie programmatisch beschließen, an die Parteien weitergeben. Was passiert, wenn die Öffentlichkeit sich gar nicht beteiligen möchte? Und das ist keine rein rhetorische Frage. Ich erinnere mich an den Prozess, als es darum ging, eine Verfassung für Europa zu entwickeln, die dann zum Lissabon-Vertrag mutierte. Das war so was von beteiligungsoffen, mit Livestreaming und jeder konnte seine Vorstellungen mit einbringen. Nur ein minimalst kleiner Teil der geneigten oder weniger geneigten Öffentlichkeit hat sich wirklich daran beteiligt.
Boeselager: Das sind zwei Probleme. Das eine ist, wie einfach es ist, wirklich in den politischen Prozessen mitzumachen, tatsächlich auch irgendwie Meinungen ausdrücken zwischen den Wahlen, und wie sehr will man das. Wenn man über das "will man das?" redet, dann muss man darüber reden und fragen: "Warum sind Parteien eigentlich so unattraktiv für Menschen heute? Und warum ist die EU so wahnsinnig unattraktiv und gilt als Teil der Globalisierung – als böses Monster?"
Da liegt es mich genau an diesem Mangel an Demokratie. Wenn ich wüsste, dass meine Stimme tatsächlich etwas in der europäischen Politik verändert, wenn ich wüsste, ich könnte zum Beispiel eine Parlamentarierin wählen, weil ich Bürokratieabbau fordere, und die würde sich dann auch da hinsetzen und kann ein Gesetz erlassen oder kann eine Regierung auf europäischer Ebene mitwählen, die das auch möchte, also Bürokratieabbau, dann wäre das spannendere Politik. Ich hätte eher das Gefühl, ich kann mitbestimmen. Meine Stimme bedeutet etwas.
Gerade, weil wir uns diese Demokratie nicht trauen, ist es für die Menschen uninteressanter, weil sie sagen: "Es ist doch eh egal, was ich wähle." Dass wir jetzt eine große Wahlbeteiligung hatten, hat mich mehr als gefreut, weil es eben genau diesen europäischen Institutionen oder dem Parlament mehr Legitimität gibt. Aber wir sind noch lange nicht da, wo wir hin müssen, damit man wirklich den Bürgern zeigen kann, dass ihre Stimme etwas bedeutet.
Deutschlandfunk Kultur: Dazu bräuchte man dann zumindest das Initiativrecht, also die Möglichkeit für das Parlament, auch Gesetzgebungsverfahren zu starten. Das können sie bisher nicht. Und dann sind wir wieder bei der Frage: Wie realistisch ist das? Denn die EU-Regierungen werden mehrheitlich daran kein so riesengroßes Interesse haben, dem Parlament diesen Trumpf in den Ärmel zu spielen.
Boeselager: Ich glaube, wir haben als europäische Bewegung da einen kleinen Vorteil, weil wir eben in jedem einzelnen Land Europas mit mobilisieren können, Leute organisieren können und tatsächlich auch Themen auf die Straße bringen können aus dem Europäischen Parlament. Dadurch, dass wir da sitzen und dass wir jetzt auch im Wahlkampf mit den ganzen Spitzenkandidaten der einzelnen Parteien saßen, konnten wir die ganze Zeit fordern: Erklärt, was ist eure Vision für Europa? Wo geht es hin, wie wollt ihr es denn machen? Vielleicht kriegt man dann tatsächlich irgendwann eine ernsthafte Antwort. Eine Sache, die jetzt jedem klargeworden ist, ist, dass Rumdümpeln halt nicht mehr funktioniert, dass es dann zu einem Brexit kommt, dass da die Vision einfach gefehlt hat, wie es weitergehen soll. Und natürlich, ich sitze jetzt alleine im Europäischen Parlament, aber es ist halt auch ein Anfang.
Sozialdemokratie hat sich nicht weiterentwickelt
Deutschlandfunk Kultur: Mehr Demokratie wagen, das Copyright auf diese schöne Forderung hat ein gewisser Willy Brandt, einer der diversen SPD-Vorsitzenden der vergangenen Jahrzehnte. Es gibt Stimmen, die sagen, obwohl es in Spanien und auch in Dänemark gegenläufige Tendenzen gibt: "Die Ära der Sozialdemokratie geht zu Ende." Würden Sie das bedauern, wenn es so wäre?
Boeselager: Ich habe wahrscheinlich auch nicht sehr viel mehr Einblicke als viele andere Bürger dazu. Aber das, was ich sehe, ist auf der einen Seite, dass es anscheinend Schwierigkeiten gibt, viel gutes Personal zu finden, die tatsächlich irgendwie überzeugende Visionen rüberbringen können. Und das Zweite ist, dass sich die Wählergruppen neu orientieren.
Ich glaube, es liegt auch teilweise dran, weil die großen Trennlinien unserer Zeit anders verlaufen. Worüber streiten wir gerade? Wir streiten über mehr oder weniger Europa. Und ist der sozialdemokratische Ansatz nicht ganz klar, warum man genau jetzt mit den Sozialdemokraten gehen sollte. Oder wir streiten über Klima. Oder wir streiten über Digitalisierung. Viele Themen also, wo eine klassische sozialdemokratische Perspektive es vielleicht nicht geschafft hat, sich weiterzuentwickeln und zu sagen: Was ist eigentlich unser Angebot da drauf?
Deutschlandfunk Kultur: Es ist nicht so, dass es den Christdemokraten in Deutschland oder europaweit so viel besser geht. Im Moment sind vor allen Dingen alle Blicke auf die SPD gerichtet. Kann es sein, dass das auch etwas damit zu tun hat, dass die Art der Vermittlung, der Kommunikation, der Mediennutzung nicht mehr zeitgemäß ist, ganz unabhängig von den politischen Inhalten?
Boeselager: Es ist schon erstaunlich, wenn man sich die Wahlkampfvideos der großen Parteien anschaut, wie die Qualität ist. Natürlich ist auch Digitalwahlkampf etwas, wo man ein bisschen innovativer sein könnte, als es vielleicht viele Parteien gewesen sind. Das ist eine Art der Vermittlung.
Ich glaube, die zweite Art der Vermittlung und das, was mir viele unserer Mitglieder gesagt haben, die irgendwo schon mal aktiv waren, ist, dass man in so Lokalgruppen hineinläuft und sich politisch engagieren möchte, aber das Gefühl hat, ich kann hier nicht wirklich was mitbestimmen. Ich bin ein großer Fan von Menschen, die sich parteipolitisch engagieren – fast egal, in welcher Partei. Und ich finde das total toll, wenn man das innerhalb der SPD oder der CDU macht. Und deswegen will ich das gar nicht diskreditieren. Aber ich glaube, dass es einfach eine große Aufgabe ist, das attraktiver zu machen, Parteipolitik zu machen.
"Ich bin Fan von Menschen, die sich in einer Partei engagieren"
Deutschlandfunk Kultur: Vor allen Dingen dann glaubwürdig zu vermitteln. Denn es geht nicht nur um das Ausspielmedium, was man nutzt. Form und Inhalt müssen zusammenpassen. Ich habe mir angeguckt, was Sie im Wahlkampf im Netz gemacht haben. Da ist eine sehr persönliche Erzählhaltung. Sie blättern Fotos aus Ihrem Leben hin. Das ist nicht Wahlkampfparole, die einfach nur einen anderen Ausspielweg sucht. Vielleicht fehlt den Parteien genau dieses Element, mit den digitalen Medien aufgewachsen zu sein.
Boeselager: Das ist diese ganze Vermittlung. Da haben Sie sicher Recht. Da haben wir vielleicht ein paar Sachen richtig gemacht und ein paar andere Leute ein paar Sachen falsch – keine Ahnung. Aber ich glaube trotzdem, dass das Programm, was zugrunde liegt, auch ein entscheidender Faktor ist. Viele Leute haben gesagt: "Okay, ich habe euch irgendwie kennengelernt, weil ihr vielleicht ein nettes Video gemacht habt, aber ich hab dann mal geschaut, was ihr geschrieben habt. Und das hat mich wirklich überzeugt."
Man kann sich halt nicht nur allein etwa auf Steuergerechtigkeit konzentrieren. Man kann sich nicht nur auf eine gemeinsame europäische Außenpolitik konzentrieren. Man kann sich nicht nur auf eine gemeinsame Klimapolitik konzentrieren, sondern man muss auch ein Angebot machen, was eine funktionierende Europäische Union darstellt. Dann war das schon einer der überzeugenderen Faktoren für uns.
Großen Respekt vor der Aufgabe, Wählern gerecht zu werden
Deutschlandfunk Kultur: Quintessenz ist, Sie lassen sich den Schneid nicht abkaufen, trotz der Tatsache, dass es eben nur ein Abgeordneter für die junge Partei geworden ist. Wie geht es jetzt weiter?
Boeselager: Ich habe großen Respekt vor der Aufgabe, zum einen weil es diese halbe Million Wähler sind, die über ein Europa gesagt haben, dass sie Volt gut finden und gerne wollen, dass Volt im Parlament sitzt. Aber auch, weil innerhalb der Bewegung viele Augen darauf gerichtet sind, wie wir dieses Mandat umsetzen. Deswegen hoffe ich, dass wir bald viele weitere Mandate in anderen Ebenen haben werden, um da klarzumachen, das ist eine größer getragene Bewegung.
Für mich persönlich ist es so, dass ich schauen muss, in welcher Gruppe wir am Montag sitzen, und mein Büro einstellen werde und dann geht es darum, seine politischen Prioritäten umzusetzen. Also, wie gesagt, zu versuchen, die gemeinsame Klimapolitik hinzukriegen, so gut es eben geht, die EU zu reformieren und dann eine gemeinsame Industriepolitik hinzukriegen, die letztendlich zukunftsfähig ist.
Deutschlandfunk Kultur: Ich muss zum Schluss noch eine ganz wesentliche Frage loswerden. Die Namen der Europaparlamentarier, alle 751, werden gelistet vom EU-Parlament. Werden Sie sich da mit vollem Namen eintragen lassen? Der wäre Damian Hieronymus Johannes Freiherr von Boeselager.
Boeselager: Ich habe in der Schule und auch in meinem Arbeitsleben danach immer Damian Boeselager gesagt. Das ist jetzt auch für das Parlament so.
Keine Distanzierung vom Adligen in seiner Familie
Deutschlandfunk Kultur: Aber es ist keine Distanz zur Familie?
Boeselager: Nein, es ist eine Gewöhnungsfrage.
Deutschlandfunk Kultur: Und kein gezielter Verzicht auf das Adelige an Ihnen?
Boeselager: Ich glaube, jeder wächst da auf, wo er aufwächst. Das muss man auch nicht verleugnen. Ich muss mich davon nicht radikal distanzieren.