Die neue Garde in Polen
Am 25. Oktober findet in Polen die Parlamentswahl statt. Laut Umfragen verliert die liberale Bürgerplattform von Ministerpräsidentin Ewa Kopacz ihre Mehrheit an die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Wir begleiten zwei junge Polit-Talente, die mitmischen.
Ein Militärlastwagen rattert durch die enge Straße, aus den Fenstern heraus nehmen ihn Männer in Uniformen unter Feuer. Granaten explodieren, Rauchbomben verdecken die Sicht.
Anna Siarkowska steht am Straßenrand, sie hat ein elegantes Kleid angezogen und blickt zufrieden auf das Schauspiel. Unter anderem ihr ist es zu verdanken, dass die Militärübung in Siedlce stattfindet. Es ist die erste Übung dieser Art in Polen. Denn nicht reguläre Soldaten bieten hier der einmarschierenden feindlichen Armee die Stirn. Es sind Freiwilligenverbände, die sich aus Schützenvereinen und Wehrsportgruppen speisen.
"Experten der Militärakademie gehen davon aus, dass die reguläre Armee unser Land nicht ausreichend verteidigen kann. Wir brauchen noch eine andere Form von Streitkräften - das Volksheer. In den USA gibt es so eine Armee, die Nationalgarde, ebenso Schweden, Finnland, Island und Israel. Das ist eine Bürgerarmee!"
Heute mache sie keinen Wahlkampf, sagt Anna Siarkowska. Und doch kann die 33-Jährige mit der Militärübung auf sich aufmerksam machen. Das Volksheer ist das Thema der dreifachen Mutter, seit vielen Jahren. Die polnische Regierung interessiert sich dafür erst seit der Ukraine-Krise.
"Die Polen sehen kein Ergebnis ihrer Arbeit"
Am Sonntag tritt Anna Siarkowska für die neue Partei Kukiz15 im Wahlkreis Siedlce an, sie steht auf Listenplatz Nummer eins. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie bald zum ersten Mal im Parlament sitzt, ist also hoch.
Denn Parteichef Pawel Kukiz erwies sich bei der Präsidentenwahl im Mai als neuer Shootingstar der polnischen Politik. Auf Anhieb erreichte er 20 Prozent, von den Jungwählern bekam der Rocksänger fast jede zweite Stimme und das obwohl er seine Bewegung erst in diesem Jahr gegründet hat. Anna Siarkowska steht voll hinter seiner Botschaft:
"Unser Staat ist nicht in den Händen der Bürger. Polit-Cliquen haben ihn in Besitz genommen. Das zeigt schon die enorme Ausbeutung, die Bürger erfahren, wenn ihnen 80 Prozent ihrer Einkommen einfach abgenommen werden. Auf diese Zahl kommt man, wenn man direkte und indirekte Steuern addiert. Deshalb haben vor allem junge Menschen enorme Probleme, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Die Polen arbeiten hart, aber sie sehen kein Ergebnis ihrer Arbeit."
Pawel Kukiz nennt die etablierten Parteien deshalb kurz "das System", gegen das er sich in Stellung gebracht habe. Dazu gehören seiner Lesart nach auch die meisten Medien, öffentlich wie privat. Das System sei an allem schuld, was schiefläuft im Land, erklärt er - und schuf damit die in Polen derzeit populärste Verschwörungstheorie.
Er und seine Anhänger wettern vor allem gegen die Steuerlast. Dabei muss ein polnischer Angestellter im Vergleich mit einem deutschen weitaus weniger Steuern und Abgaben zahlen. Solche EU-weiten Vergleich kümmern den Neupolitiker Kukiz allerdings nicht. Er setzt auf Rhetorik gegen "das System" und nationalistische Parolen.
Konrad Zaradny setzt auf Ehrlichkeit
In Siedlce wie in Ostpolen überhaupt kommt das an. Soziologen haben Ostpolen schon vor Jahren nicht gerade schmeichelhaft "Polen B" genannt. Auch hierher fließen viele EU-Gelder, aber der Rückstand auf die Boom-Regionen im Westen Polens ist unübersehbar, die Arbeitslosigkeit im Schnitt doppelt so hoch.
Doch auch im Westen haben viele jungen Menschen für Kukiz gestimmt.
In Posen, 400 Kilometer westlich von Siedlce, sitzt Konrad Zaradny im Hörsaal einer Privatuni. Er nimmt Teil an einer Podiumsdiskussion. Das weiße Hemd sitzt immer noch tadellos, aber er ist müde. Kaum ein anderer Kandidat in Posen investiert so viel in den Wahlkampf. Schon morgens um halb sieben war der 23-jährige Student und Jungunternehmer heute auf der Straße, um Prospekte zu verteilen.
Konrad setzt auf Ehrlichkeit. Er gibt zu, dass die Regierung die jungen Menschen völlig vernachlässigt habe. So will er Vertrauen zurückgewinnen, Vertrauen, das seine Partei, die rechtsliberale "Bürgerplattform", in ihren acht Regierungsjahren eingebüßt hat. Trotzdem wirkt Konrad blass zwischen den Oppositionsvertreten, die das Blaue vom Himmel versprechen.
Wieder draußen, auf dem Weg zum Auto, macht er seinem Unmut Luft:
"Wir sollten erstmal anfangen, die Bedürfnisse junger Menschen zu untersuchen. Wir sollten nicht von der eigenen Perspektive ausgehen, das gilt übrigens für alle Politikfelder. In unserem Nachbarbezirk gab so eine Untersuchung. Das überraschende Ergebnis: In einem der am weitesten entwickelten Bezirke klagen die jungen Leute vor allem über den öffentlichen Nahverkehr. Wenn sie aus den kleineren Städten nach Breslau pendeln, um zu studieren, verlieren sie viel Zeit mit Warten."
Nun sind die Umfragewerte im Keller
Dass die "Bürgerplattform" kaum um Jungwähler kämpft, sieht man an Konrad selbst. Er ist der landesweite Vorsitzende der Jugendorganisation der Partei. Trotzdem steht er im Wahlkreis Posen nur auf Platz fünf seiner Parteiliste. Bei der letzten Wahl hätte das gereicht. Doch nun sind die Umfragewerte im Keller. Vielleicht schaffen diesmal nur vier Kandidaten der Posener Bürgerplattform den Sprung ins Parlament.
Konrad ist in Posen aufgewachsen. Viel habe sich hier getan, sagt er, und zeigt aus dem Auto heraus auf das renovierte Gebäude der Universität.
"Inzwischen haben die Studenten eine viel modernere Anlage weiter draußen - auf einem eigenen Campus. Dort stehen einige der modernsten Gebäude in Polen überhaupt. Auch die Anfahrt ist bequem. Die Straßenbahn fährt gerade einmal 10, 15 Minuten dorthin."
Konrad ist der einzige Kandidat in Polen, der sich im Wahlkampf ein Bürgerbüro leistet - die Partei-Jugendorganisation will ihn unbedingt nach Warschau in den Sejm bringen.
Bis vor kurzem war hier eine Suppenküche untergebracht. Aber Posen braucht kaum noch Suppenküchen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei drei Prozent, so niedrig wie sonst nirgends in Polen. Hierher, wie auch in viele andere Teile von Westpolen, flossen viele Investitionen von westlichen Konzernen – zum Beispiel von Volkswagen. Diesen Aufschwung verdanke Polen auch Donald Tusk, meint Konrad, dem langjährigen Ministerpräsidenten, heute EU-Ratspräsident:
"Viele Polen wissen die Änderungen in unserem Land jedoch nicht zu schätzen. Polen ist unter den europäischen Staaten, die sich am dynamischsten entwickeln. Wir verlangen ständig mehr, und das ist sehr gut. Die Leute wollen leben wie in Deutschland oder England. Deshalb sind viele ausgewandert. Aber das Gerede, dass alles hier eine Kloake ist, ist nicht nur falsch. So spuckt man den Menschen ins Gesicht, die das alles hier aufgebaut haben."
PiS liegt weit vorne in den Umfragen
Wieder zurück im ostpolnischen Siedlce. Aus Sicht von Anna Siarkowska war die Politik der "Bürgerplattform", die nun acht Jahre regierte, ein Desaster. Die polnische Gesellschaft sei gespalten, es gebe keine einigende, nationale Idee. So sieht es auch die rechtskonservative Oppositionspartei "Recht und Gerechtigkeit", kurz PiS. Die Formation, angeführt von Ex-Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski, liegt derzeit weit vorne in den Umfragen.
Zur Alleinregierung dürfte es aber nicht reichen: Die neue Partei des Musikers Pawel Kukiz soll den Königsmacher spielen. An richtiges Mitregieren glaubt Kandidatin Anna Siarkowska aber nicht:
"Derzeit gibt es keine Chance, dass eine gegen das System gerichtete Regierung entsteht. Wir werden deshalb keine Ministerposten übernehmen. Wir wollen keine Posten, sondern echte Veränderungen. Wenn wir eine Koalition eingehen, dann nur, um bestimmte Projekte, Gesetze zu unterstützen, die Polen nützen."
Anna Siarkowska geht an einer Litfaßsäule vorbei, auf der ihre Wahlplakate kleben. "Du kannst es, Polen", ist ihr Slogan. Die Jungpolitikerin unterstützt die nationalistische Losung "Polen den Polen". Wie die größte Oppositionspartei PiS will sie unbedingt verhindern, das Kriegsflüchtlinge aus Syrien oder dem Irak ins Land kommen. Und sie trauert der Industrie nach, die Polen nach der demokratischen Wende 1989 verloren hat und weiter verliert - die Werften, die Stahlwerke, die Kohlegruben.
In Siedlce, im polnischen Osten, geht es vielen so. Ein alter Mann, der sein Fahrrad an einem Wahlplakat von Anna Siarkowska vorbeischiebt:
"So viele Jahre haben die Liberalen jetzt regiert - und das Ergebnis: Alles ist in fremden Händen, unsere Agrarbetriebe, unsere Ziegelfabrik in Siedlce, alles. Sie haben das Land bestohlen. Dabei wäre es doch die Aufgabe der Regierung gewesen, unsere Landwirtschaft, unsere Wälder zu schützen."
Zieht Kaczynski die Fäden im Hintergrund?
Gegen diese Rhetorik kommt die Regierung nur schwer an. Auch Konrad Zaradny nicht. Er gibt am nächsten Morgen im örtlichen Fernsehstudio von Posen ein Live-Interview im landesweit wichtigsten Informationskanal. Durch das offene Fenster dringen die Glocken des Rathauses. Zehn Prozent Vorsprung hat die oppositionelle PiS derzeit, sagt der Moderator. Was er an Ministerpräsidentin Ewa Kopacz von der "Bürgerplattform" schätze - und was an Beata Szydlo, der Spitzenkandidatin der PiS?
Beide seien sehr fleißig, antwortet er. Allerdings glaubt Konrad, wie so viele, dass Beata Szydlo vielleicht Ministerpräsidentin wird, vielleicht unterstützt vom Musiker Pawel Kukiz. Die Fäden im Hintergrund aber werde der PiS-Vorsitzende Jaroslaw Kaczynski ziehen.
"Ich habe schon ein bisschen Angst davor, dass die PiS eine große Mehrheit bekommen und allein regieren könnte. Diese Partei hat einen Hang zu den Extremen, auch in der Außenpolitik gegenüber Deutschland oder Russland. Aber die Leute wählen się, auch die jungen, weil sie einfach die größte Oppositionspartei ist und sie einen Wechsel wollen. Die Jungen erinnern sich auch nicht an die letzte Regierungszeit der PiS, ich war damals gerade 15 Jahre alt."
Extrem verhielt sich die PiS damals auch gegenüber ihren Partnern. Die von ihr geschaffene Anti-Korruptionsbehörde nahm besonders Politiker der Koalitionsparteien ins Visier. Daran erinnert sich auch Anna Siarkowska - und deshalb äußert sie sich nur vorsichtig zu einem Bündnis mit der PiS, trotz aller programmatischer Gemeinsamkeiten.