"Das ist eine zwiespältige große Mehrheit für Macron"
Für den Politikwissenschaftler Sebastian Chwala ist der Ausgang der ersten Runde der französischen Parlamentswahl Anlass zur Besorgnis: "Das tut einer pluralen Demokratie wie Frankreich nicht gut", sagt er und fürchtet um das Gegengewicht der Opposition.
"Das tut einer pluralen Demokratie wie Frankreich nicht gut." So kommentiert der Marburger Politikwissenschaftler Sebastian Chwala den Ausgang der ersten Runde der französischen Parlamentswahl. Die Partei "La République En Marche" von Staatspräsident Macron und die verbündete Zentrumspartei MoDem erhielten mehr als 32 Prozent der Stimmen. Chwala sagt im Deutschlandfunk Kultur:
"Das ist ein Ergebnis, das eher besorgt. Weil: Als Anhänger irgendwie eines demokratischen, pluralen politischen Systems erwartet man natürlich, dass es, klar, jemanden gibt, der Wahlen gewinnt, der auch regieren, gestalten kann. Aber es braucht natürlich auch eine Opposition."
Ein Wahlsystem der Mehrheitsbeschaffung
Das Wahlsystem der Fünften Republik sei in seiner Konstellation dazu geschaffen, Mehrheiten zu ermöglichen und dabei nicht unbedingt den Wählerwillen auszudrücken, äußert Chwala. Er spricht von einer "zwiespältigen großen Mehrheit für die Person Macron" und analysiert die Situation der politischen Parteien:
"Und jetzt in dieser Phase, wo die eingefahrenen, die gängigen Parteien, die Sozialdemokratie, die Konservativen, jetzt in den letzten 30 Jahren es eben nicht geschafft haben, Kaufkraft zu stärken, Erwerbslosigkeit zurückzufahren - mit sinkender Wahlbeteiligung, trotz sozusagen großer Unzufriedenheit der Menschen - das siegreiche Lager immer große Mehrheiten einfährt. Und das, obwohl sozusagen die Zustimmung zu den politischen Parteien sinkt."
Ist der Rechts-Ruck in Frankreich mit diesem Ergebnis erst einmal abgewendet? Chwala zeigt sich skeptisch:
"Und jetzt in dieser Phase, wo die eingefahrenen, die gängigen Parteien, die Sozialdemokratie, die Konservativen, jetzt in den letzten 30 Jahren es eben nicht geschafft haben, Kaufkraft zu stärken, Erwerbslosigkeit zurückzufahren - mit sinkender Wahlbeteiligung, trotz sozusagen großer Unzufriedenheit der Menschen - das siegreiche Lager immer große Mehrheiten einfährt. Und das, obwohl sozusagen die Zustimmung zu den politischen Parteien sinkt."
Ist der Rechts-Ruck in Frankreich mit diesem Ergebnis erst einmal abgewendet? Chwala zeigt sich skeptisch:
"Das trügt, also meiner Meinung nach. Das ist natürlich immer ein bisschen auch Glaskugelgucken, die Wahlergebnisse waren gestern erstaunlich schwach, selbst in den Hochburgen in Südfrankreich, nur Marine Le Pen hat sich in ihrem Wahlkreis eigentlich gehalten, hat gute Chancen, gewählt zu werden. Der FN muss seine innerparteiliche Krise lösen."
Das Interview im Wortlaut:
Christine Watty: Was wirklich erstaunlich ist in dieser Welt: Neulich noch schauten alle mit bangem Herzen nach Frankreich, aus Sorge, dass demnächst mit einer Marine Le Pen als Präsidentin zu leben ist. Na gut, ich muss es einschränken, nicht alle Menschen fürchteten genau diesen Wahlausgang. Und jetzt das: Macron ist gelandet wie ein Superheld, nicht nur ein Superheld, sondern ein Obersupersuperheld.
Und in ordentlichen Worten: Bei der Parlamentswahl Runde eins gestern stand sozusagen wirklich im Raum dieser sogenannte Durchmarsch, und der hat tatsächlich gleich mal 32 Prozent der Stimmen erreicht. Da können sich die einen natürlich beruhigt zurücklehnen, die französischen Sozialisten aber zum Beispiel eher nicht und die Le-Pen-Fraktion auch nicht so richtig. Und dieses Wahlergebnis ein bisschen einordnen möchte ich jetzt mit Sebastian Chwala, der ist Politikwissenschaftler. Schönen guten Morgen, Herr Chwala!
Sebastian Chwala: Guten Morgen, Frau Watty!
Watty: Beeindruckt Sie dieser Erfolg Macrons, jetzt mal auf den ersten Blick, oder besorgt Sie dieser sogenannte Durchmarsch, der da ansteht, eher?
Chwala: Na ja, das ist natürlich ein Ergebnis, das eher besorgt. Weil, als Anhänger irgendwie eines demokratischen, pluralen politischen Systems erwartet man natürlich, dass es auch natürlich klar jemanden gibt, der Wahlen gewinnt, der auch regieren, gestalten kann, aber es braucht natürlich auch eine Opposition. Und wenn man sich im Moment die Projektionen ansieht für die Sitzverteilung - noch ist ja nichts entschieden - es sind wenig Sitze gestern entschieden worden, ist ja ein Mehrheitswahlsystem, ist immer noch alles drin. Aber wenn man sich überlegt, dass von 577 Sitzen der Macron-Fraktion oder Macron-Bewegung jetzt 415 bis 450 Sitze zuerkannt werden, macht man sich schon Sorgen.
Watty: Entschuldigung, ich muss mal an dieser …
Chwala: … eine plurale Demokratie wie Frankreich, der tut das nicht gut.
Kein Raum mehr für eine demokratische Debatte?
Watty: Ja, Entschuldigung, ich hätte schon beinahe einen halben Satz zu früh unterbrochen. Aber dieser Vorwurf, kein Raum mehr für eine demokratische Debatte, das ist auch das Statement des Chefs der französischen Sozialisten. Und man fragt sich aber an dieser Stelle: An wen geht denn dieser Vorwurf oder zumindest diese Feststellung? An die Parteien, die Wähler, das Wahlsystem? Also, zumindest gibt es auf einmal eine Eindeutigkeit, die man dann wiederum an anderer Stelle in solchen Konstellationen ja sehr vermisst!
Chwala: Na ja, wie gesagt, also, ich würde schon dem Wahlsystem eine gewisse Verantwortung geben. Weil, diese Fünfte Republik ist in ihrer Konstellation so geschaffen, dass Mehrheiten geschaffen werden sollen und nicht der Wählerwille Ausdruck findet. Und jetzt in dieser Phase, wo Parteien sowieso … oder die eingefahrenen, die gängigen Parteien, die Sozialdemokratie, die Konservativen jetzt in den letzten 30 Jahren es eben nicht geschafft haben, Kaufkraft zu stärken, Erwerbslosigkeit zurückzufahren, mit sinkender Wahlbeteiligung, trotz sozusagen großer Unzufriedenheit der Menschen das siegreiche Lager immer große Mehrheiten einfährt. Und das, obwohl sozusagen die Zustimmung zu den politischen Parteien sinkt. Das ist also sozusagen eine, ja, wie soll man das formulieren, eine zwiespältige große Mehrheit für die Person Macron und seine Bewegung.
Die Situation der französischen Sozialdemokratie
Watty: Sie schreiben, das Ganze sei ein Desaster für die Restsozialdemokratie, und blicken natürlich auf das ziemlich desaströse Wahlergebnis für die französischen Sozialisten. Wie konnte es aber überhaupt geschehen, dass die etablierten Parteien so stimmenmäßig eingebrochen sind?
Chwala: Ja, ich habe es ja versucht, gerade schon zu sagen. Also, man muss natürlich wissen, dass die Sozialdemokratie auch im linken Spektrum nie so eine Massenverankerung hat und vor allen Dingen profitiert hat von der Krise der Kommunistischen Partei in den späten 70ern und frühen 80ern, zu einem Zeitpunkt, wo auch der Bezug zur Sowjetunion, zum real existierenden Sozialismus immer weiter bröckelte und die Sozialdemokratie vor allen Dingen eine Partei war, die gewählt wurde und nicht so viele Mitglieder hatte. Und dann in den 80ern vor allen Dingen auch umgeschaltet hat auf so eine autoritäre, neoliberale Politik.
Und diese neoliberale Politik, dass man sich sozusagen dann auch ab 83 mehr und mehr auf die deutsche Linie festgelegt hat, um zu sagen: Währungsstabilität, ausgeglichene Haushalte, die hat sozusagen diesen wichtigen zentralen Aspekt der französischen Logik, dass der Staat intervenieren muss und dass der Staat das Recht hat, auch planungsmäßig in die Wirtschaft einzugreifen und man starke öffentliche Dienste braucht, ganz massiv infrage gestellt. Und das hat gerade viele linke Wähler einfach enttäuscht und abgeschreckt.
Und gerade nachdem Hollande noch mal gewählt wurde 2012 als Kandidat, der sich stark gemacht hat, gegen dieses Finanzkapital zu sein, war das jetzt sozusagen ja ganz massive Backlash, weil man jetzt endgültig das nicht mehr bereit ist zu akzeptieren, dass die Sozialdemokratie diesen Rechtsruck durchgemacht hat.
Marine Le Pen gegen Marion Maréchal-Le Pen
Watty: Herr Chwala, jetzt können wir natürlich aber nicht nur auf die linke Seite schauen, sondern auch noch mal vielleicht ein kurzer Blick auf Le Pen. Die scheint auf einmal … beziehungsweise die ganze Rechtslastigkeit einer solchen möglichen Wahlentscheidung scheint wie so ein halb vergessener Alptraum. Trübt denn Ihrer Meinung nach dieses Der-Rechtsruck-wurde-gerade-noch-mal-abgewendet-Gefühl?
Chwala: Das trügt, also meiner Meinung nach. Das ist natürlich immer ein bisschen auch Glaskugelgucken, die Wahlergebnisse waren gestern erstaunlich schwach, selbst in den Hochburgen in Südfrankreich, nur Marine Le Pen hat sich in ihrem Wahlkreis eigentlich gehalten, hat gute Chancen, gewählt zu werden. Der FN muss seine innerparteiliche Krise lösen.
Marine Le Pen hat sich immer so ein bisschen dargestellt als Kämpferin auch für prekäre, unterprivilegierte Milieus, wobei ich sagen würde, dafür steht der FN nicht unbedingt, aber sie hat das gemacht. Während es aber einen anderen Flügel gibt um die Nichte Marion Maréchal-Le Pen, die in der klassischen Tradition ihres Vaters eher so eine wirtschaftsliberale, also nationalbetonte wirtschaftsliberale Politik machen wollte, wohl auch mehr so für Kleinunternehmermilieus, bäuerliche Milieus, und gegen die Linke und Gewerkschaften Politik machen wollte.
Und das heißt jetzt in diesem Fall, dass man sich auch vonseiten Marion Maréchal-Le Pens positiver zum Euro und zur EU positionieren sollte, was Marine und ihr Berater Florian Philippot sehr stark abgelehnt haben. Und dieser Konflikt ist ausgebrochen jetzt im Wahlkampf und hat wahrscheinlich dazu geführt, dass trotz allem noch viele Anhänger des FN, die eher so aus dieser, ja, wie soll ich das sagen, zwar migrationsfeindlichen, also pro-europäischen Haltung heraus den FN unterstützt haben, die vielleicht zu Hause geblieben sind.
Watty: Danke schön an Sebastian Chwala, klingt trotzdem wie das Ende eines Gespräches, das nur ein Ausschnitt sein kann in der großen Analyse dieses ersten Wahlgangs der Parlamentswahlen, aber danke für Ihre Zeit!
Chwala: Sehr gern!
Watty: Am nächsten Wochenende findet dann die Stichwahl statt und ich nehme an, dann gibt es auch wieder vieles zu besprechen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. DLFKultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.