Parlamentswahl in Großbritannien

Abschied von klaren Verhältnissen

Nicola Sturgeon von der schottischen SNP lehrt die etablierten Parteien das Fürchten.
Nicola Sturgeon von der schottischen SNP lehrt die etablierten Parteien das Fürchten. © dpa / picture alliance / Robert Perry
Von Jochen Spengler |
Am 7. Mai wird in Großbritannien gewählt. Die Wahlforscher sagen ein politisches Erdbeben voraus: Die schottische SNP könnte den etablierten Parteien etliche Stimmen kosten - und entscheidende Sitze im Unterhaus erobern.
Glasgow Fußgängerzone Ende April. Mehrere Dutzend meist junge Mitglieder der Labour-Partei haben sich versammelt. Sie bauen ein kleines Podest auf. Craig streift sich eines der vielen farbigen T-Shirts mit den Parolen über und greift sich eins der bunten Schilder. Keine Studiengebühren für schottische Studenten steht darauf, oder: 1000 mehr Schwestern für das Gesundheitswesen, und: Wählt Labour.
"Ich bin wirklich überzeugt, dass unser Land einen Wandel braucht und es die Labour-Partei ist, die es in die richtige Richtung bewegen würde. Die SNP aber will das Vereinigte Königreich auseinander brechen, und das ist gar nicht das, was ich möchte."
Der 19-Jährige wartet auf den Chef der schottischen Labour Partei, auf Jim Murphy; der kämpft seit Wochen verzweifelt gegen die Auslöschung der Partei in ihrer einstigen Hochburg Schottland durch die Schottische Nationalpartei. Murphys Gegner und SNP-Sympathisanten sind bereits da und versuchen mit einem Megaphon zu stören.
Und dann taucht Jim Murphy plötzlich auf. Behende springt der hagere 47-Jährige auf das kleine, mobile Podest und schnappt sich ein Mikrofon. Seine Anhänger jubeln wie bestellt und recken die Schilder hoch für die Kameras der versammelten Journalisten. Und Murphy legt los:
"David Cameron a desperate Prime Minister…"
Wenn es soziale Gerechtigkeit wolle, dann solle Schottland nicht die SNP wählen, sondern Labour wählen. Denn das sei das letzte, was sich der konservative Premierminister David Cameron wünsche.
"Scotland should vote Labour for social justice and because it's the last thing David Cameron wants us to do."
Nach nur acht Minuten ist der Spuk vorbei und Jim Murphy hat unterstrichen, wie sehr er Volkstribun-Auftritte liebt. Ob er damit irgendeinen noch unentschiedenen Wähler überzeugt, ist fraglich. Gesprochen hat er mit keinem, aber, so klärt uns ein BBC-Kollege auf, darauf komme es in diesem Fall auch nicht an:
"Das hier ist Teil des Luftkriegs, wo es darum geht machtvolle Bilder für die Fernsehnachrichten zu erzeugen. Im Bodenkrieg macht man dann Wahlkampf an den Haustüren und spricht mit den Wählern. Das geschieht auch."
Doch im "Bodenkrieg" ist die SNP haushoch überlegen. Sie hat die Zahl ihrer Mitglieder seit dem verlorenen Unabhängigkeitsreferendum im letzten Herbst auf 100.000 vervierfacht.
Schlechte Aussichten für Labour in Schottland
Auch die Wahlforscher sagen ein politisches Erdbeben voraus. Vor fünf Jahren schickte Labour noch 41 schottische Abgeordnete nach London, die SNP kam auf sechs. Dieses Mal könnte sich das Verhältnis umkehren, ja Labour kann von Glück sagen, wenn sie überhaupt sechs Wahlkreise im Norden gewinnen. Seit letztem Herbst hat es die SNP verstanden, die Referendumsniederlage in einen Sieg umzumünzen und sich heute als die sozialdemokratische Partei darzustellen, die wie keine andere für Schottlands Interessen einsteht.
Im Glasgower Millenium Hotel wartet Gerry Hassan, ein Uni-Dozent und bekannter Blogger. Früher habe sich bei Unterhauswahlen niemand für Schottland interessiert, sagt er. Das sei jetzt anders und:
"Wir mögen es, dass es so viel Medienaufmerksamkeit für uns gibt und wir der mögliche Königsmacher sind. Die Leute lieben die Idee, das britische, politische Establishment aufzuschrecken und Macht zu spüren. Schottland genießt, dass über es geredet wird – das ist doch nicht sehr überraschend?"
Seit 2007 regiert die SNP in Schottland, aber bislang galt als selbstverständlich, dass ins Parlament nach Westminister vor allem Labour-Abgeordnete geschickt wurden.
"Schottische Wähler wollen keine konservative Regierung. Was sich aber geändert hat, ist, dass sie heute glauben, eine bessere Labour-Regierung zu bekommen, wenn sie SNP wählen."
Denn die SNP wildere im traditionellen Jagdgebiet von Labour und versuche, sie links zu überholen. Sie vereine nationale und sozialdemokratische Strömungen und dabei sei ihr eine brillante Balance zwischen der Rolle der Amtsinhaber und der Rolle von Rebellen gelungen. Dafür steht vor allem die neue Nummer eins der SNP: Nicola Sturgeon. Man könnte die 44-jährige kinderlose Anwältin für eine jüngere, schottische Ausgabe von Angela Merkel halten. Nicola Sturgeon hat im letzten Herbst den polarisierenden Alex Salmond als Parteichef und Ministerpräsidenten abgelöst. Und sie ist in vielerlei Hinsicht das völlige Gegenteil ihres Vorgängers.
"Sie ist umsichtig, eine Planerin, mehr mitte-links als Alex Salmond und sie versteht es besser als er, die Labour-Wähler anzusprechen. Der war ein Zocker und das Referendum war ein gewaltiges Pokerspiel. Nicola Sturgeon ist keine Spielerin, sondern sehr vorsichtig."
Die schottische Ministerpräsidentin, die selbst gar nicht zur Wahl steht, wird in den Fernsehdebatten zum Star des Wahlkampfes und ist in ganz Großbritannien die mit Abstand beliebteste Politikerin. Der Labour Partei bietet sie eine Zusammenarbeit an, um David Cameron zu entmachten. Denn klar ist in Großbritanniens politischem System: Premierminister bleibt entweder der Konservative David Cameron oder es wird der Labour-Herausforderer Ed Miliband, auch wenn viele Briten dem gelegentlich unbeholfen wirkenden 45-Jährigen das Amt nicht recht zutrauen. Im Wahlkampf aber schlägt sich Miliband besser als erwartet. Eine Koalition mit der SNP lehnt er ab, nicht aber eine informelle Zusammenarbeit. Die überwiegend konservative Presse und die Tories schlagen Alarm. Ein Bündnis von Labour mit den Totengräbern des Vereinigen Königreichs? In einem Tory-Wahlspot zieht Nicola Sturgeon an den Strippen einer Ed Miliband Marionette und spricht ihm vor: mehr Steuern, mehr Geldleihen, mehr Schulden.
Konservative fürchten SNP-Politikerin Nicola Sturgeon
Auf einmal gilt Nicola Sturgeon den Konservativen als gefährlichste Frau der Welt, als Lady MacBeth in Highheels und kurzem Rock. Eine aggressive Angstkampagne beginnt, und der Druck hat am Ende Erfolg. Ed Miliband schließt in der letzten Fernsehbefragung jeden Deal mit der SNP aus.
"Und wenn keine Koalition oder einen Deal mit der SNP einzugehen bedeutet, keine Regierung stellen zu können, dann sei es so. Ich werde die Zukunft und Einheit unseres Landes nicht opfern und SNP-Forderungen nachgeben."
Da aber Ed Miliband nicht mit einer absoluten Mehrheit für Labour rechnen darf, könnte er nur noch Premierminister einer Minderheitsregierung werden, die von Fall zu Fall versucht, für ihre Politik wechselnde Mehrheiten im Parlament zu gewinnen. Das birgt Instabilität. Seit fünf Jahren regieren Konservative und Liberale in Großbritannien und nehmen für sich in Anspruch, das Land nach der Finanzkrise mit einer harten Sparpolitik wieder zum Blühen gebracht zu haben. Inflation und Arbeitslosigkeit sind niedrig, das Wachstum ist hoch und das Urteil des Politikwissenschaftlers Professor Anthony Glees lautet:
Der britische Oppositionsführer Ed Miliband (l.) und Premierminister David Cameron
Herausforderer: Oppositionsführer Ed Miliband (l.) und Premierminister David Cameron.© AFP / Matt Dunham
"Alles in allem war diese Regierung nicht schlecht. Besonders in wirtschaftlicher Hinsicht hat die Regierung sehr viel Gutes getan. Aber dieser Erfolg in der Wirtschaft scheint keine Resonanz bei den Wählern zu finden."
Eine Neuauflage der Koalition ist unwahrscheinlich und es ist völlig ungewiss, wer die Wahl gewinnt. Die Liberaldemokraten werden von ihren eher linken Wählern für das Bündnis mit den Tories abgestraft werden; sie dürften die Hälfte ihrer 56 Mandate einbüßen und damit nicht mehr das Zünglein an der Waage sein. Aber auch die Konservativen werden wohl wieder keine absolute Mehrheit erreichen und profitieren weniger vom Aufschwung, als sie sich ausgemalt haben. Die Ungleichheit im Land hat stark zugenommen und viele Briten haben vom Aufschwung nicht profitiert, wurden Opfer der Sozialkürzungen; sie klagen über Niedriglöhne, steigende Lebenshaltungskosten, hohe Mieten und lange Warteschlangen im staatlichen Gesundheitssystem. Inständig appelliert David Cameron an die Wähler:
"Ich bitte Sie um fünf weitere Jahre, um den Job zu beenden. Dann könnten wir die guten Nachrichten aus unserer Wirtschaft umwandeln in ein gutes Leben für Sie und ihre Familie."
Doch der Appell zündet nicht. Die Tories haben gegenüber Labour keinen entscheidenden Vorsprung. Was auch daran liegt, dass ihnen die Unabhängigkeitspartei UKIP am rechten Rand Stimmen streitig macht. Vergeblich versuchte David Cameron mit dem Versprechen einer Volksbefragung zur EU Mitgliedschaft den EU-Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Bis zu 15 Prozent der Stimmen signalisieren die Meinungsforscher für UKIP. Stimmen, die den Tories fehlen, die sich aber im Mehrheitswahlrecht nicht adäquat in Sitzen niederschlagen. UKIP kann höchstens mit drei Mandaten rechnen, wird also für die Regierungsbildung keine wichtige Rolle spielen. UKIP-Chef Nigel Farage selbst muss sogar um den Einzug ins Parlament bangen. Es ist nicht gewiss, dass er den Wahlkreis um Ramsgate an der englischen Ostküste erobert.
"Ich habe hier schon einmal 2005 kandidiert, und ich arbeite in diesem Wahlkreis seit den Europawahlen 1999, ein guter Grund hier anzutreten."
Farage tritt an gegen EU-Mitgliedschaft, Windräder und Einwanderer; aber er wolle die Zugbrücke nicht hochziehen, sondern kontrollieren, wer rüberkommt.
"I don’t want to pull up the drawbridge, I want to control who comes over it."
Widerstand gegen rechtspopulistische UKIP
Doch überall wo UKIP kandidiert, gibt es Widerstand – auch in Ramsgate auf dem Blumenmarkt.
"Ich heiße Simon Steven und bin Freiwilliger am Anti-Ukip-Stand. Ich bin überzeugt, dass Nigel Farage ein Desaster wäre für diese Region."
Dass die Rechtspopulisten in der Defensive seien, dass spüre er an seinem Stand. Es seien Labour-Leute, Grüne, aber auch Liberale und Konservative, die hier Aufkleber und Button verteilen: Nein zu Rassismus, Nein zu UKIP.
"Anfangs hat niemand die Flugblätter genommen und keiner wollte etwas gegen UKIP sagen, aber jetzt hat sich das Blatt hat sich gewendet. Wir fühlen uns sicher und es gibt sehr viele Menschen, die uns unterstützen und die UKIP hassen.
Die Aktivisten empfehlen den Bürgern, taktisch zu wählen; bei jenem Kandidaten das Kreuz zu machen, der den letzten Umfragen zufolge am wahrscheinlichsten gegen UKIP gewinnen könne.
Auch Immigranten wehren sich gegen die Anti-Einwanderungsrhetorik, die gelegentlich im Wahlkampf hochkommt. "Warum entzweien wir uns, die wir so eng befreundet waren? Du brichst mir das Herz, stößt mich weg und schließt die Tür." - Mit diesen Textzeilen wendet sich Pola, eine blonde polnische Schönheit in einem Musikvideo an das britische Volk. Leider werde die positive Rolle, die die meisten Einwanderer in Großbritanniens multikultureller Gesellschaft spielen, von manchen Briten immer weniger geschätzt, erklärt Pola in einem Pub in Nordlondon. Neben ihr sitzt Lucie und nickt; die Tschechin lebt seit fast 20 Jahren mit ihrer Familie in der Metropole.
"Ich habe Angst vor einer Partei namens UKIP, deren Daseinszweck darin besteht, Immigranten die Schuld zu geben – für alle möglichen britischen Probleme. Wir müssen als Sündenböcke herhalten. Und die anderen Parteien übernehmen die UKIP-Rhetorik aus Angst, Wählerstimmen zu verlieren."
Lucie ist Film- und Fernsehproduzentin und fühlte sich erstmals vor einem Jahr in London nicht mehr willkommen. UKIP war zur stärksten Partei bei der Europawahl geworden und viele Medien wiederholten deren ausländerfeindliche Parolen.
"Ich war aufgebracht, stand unter der Dusche an einem wunderschönen sonnigen Sonntagmorgen und musste heulen, weil ich mich so betrogen und verletzt fühlte. Und dann dachte ich: Hör auf zu heulen, Lucie - Du bist Produzentin und kommst aus der kulturschaffenden Wirtschaft, schaffe was."
Heraus kam ein Popsong mit einer Liebeserklärung an Großbritannien. Wir - Briten und Einwanderer - müssen über die Probleme reden und die Kluft überbrücken, ehe es zu spät ist, so lautet die positive Message des Popsongs. Mehr als 45.000 haben das Youtube-Video gesehen, seit Sonntag kann der Song von Musikplattformen heruntergeladen werden und vielleicht schafft er es in die UK-Charts. Wichtiger aber noch ist Lucie etwas anderes:
"I'd rather have no UKIP-members of the parliament; but the fewer the better."
Am besten wäre es, wenn gar keine UKIP Leute ins Parlament gewählt würden - je weniger desto besser.
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