Wenn die Jungen Greise wählen
26:05 Minuten
84 Millionen Menschen dürfen bei den Wahlen in Indien erstmals ihre Stimme abgeben: in einem Land mit einem Durchschnittsalter von 26. Die Politiker dagegen sind oft alt, Ministerpräsident Modi ist schon 68. Wie tickt, wie wählt die indische Jugend?
Rajni Kumar, 20 Jahre alt, Tochter eines Tageslöhners, sie ist die erste in ihrer Familie, die lesen und schreiben kann. Manvender Chauhar, 21, Student aus dem Bundesstaat Bihar im Osten Indiens, fängt schon bald einen Job bei Amazon India an. Vatya Raina, die junge Feministin, studiert in der Hauptstadt Delhi und will das Frauenbild im Land umkrempeln. Und Riza Madi aus Kaschmir, der aus Protest nicht an den Wahlen teilnimmt, weil Indien aus seiner Sicht nicht sein Land ist.
Vier potenzielle Erstwähler von fast 84 Millionen in Indien. Seit den letzten Wahlen vor fünf Jahren sind in etwa so viele neue Wähler dazu gekommen, wie Deutschland Einwohner hat.
Nirgendwo sonst auf der Welt leben so viele junge Menschen wie in Indien, die Erstwähler sind eine beliebte Zielgruppe für die Politiker im Wahlkampf.
Rap-Song als Werbung auf Social Media
Mit diesem Rap-Song versucht die Regierungspartei BJP auf sämtlichen Social Media Kanälen um die jungen Stimmen zu werben. Auf dem Campus der JNU, das ist eine der renommiertesten Universitäten in Neu-Delhi, schaut sich die Sprachstudentin Vatya das Wahlwerbe-Video an und sie schmunzelt:
"Rap ist hier gerade voll im Trend und ja, die Partei nutzt das gut für sich aus. Aber ganz ehrlich, davon lassen wir uns nicht täuschen. Nur weil du rappst bedeutest das ja wohl kaum, dass du weißt, wie man ein Land führen kann."
Auch wenn die indische Gesetzgebung die Gleichberechtigung von Männern und Frauen vorsieht, die Tradition tut dies nicht. Jungs werden nach wie vor bevorzugt, Mädchen gelten vielen Eltern als Last. Letztes Jahr musste die indische Regierung zugeben, dass pro Jahr zwei Millionen Mädchen im Land fehlen: Entweder sie werden abgetrieben, nach der Geburt ermordet oder sie sterben an Vernachlässigung.
Noch heute tragen einige Mädchen im Land den Namen "Nakuschi", der übersetzt so viel bedeutet wie "unerfreulich" oder "ungewollt". Auf Vatya trifft das ganz und gar nicht zu, ihre Mutter habe sich sehr gefreut, eine Tochter auf die Welt zu bringen. Vatya ist aber Feministin geworden, weil sie will, dass das, was sie und ihre Mutter durchmachen mussten, sich niemals mehr wiederholt.
"Als mein Vater gestorben ist, wurde meine Mutter von ihrer Familie gezwungen, einen anderen Mann zu heiraten. Damit das Kind einen Vater hat. Sie wollte mich alleine groß ziehen, aber das geht aus Sicht unserer Gesellschaft nicht. Und dieser neue Mann, den sie heiraten musste, hat mich dann sexuell missbraucht. Das war alles einfach keine gute Idee, dass sie da hinein gezwungen wurde."
Wenn die Tochter den Namen "ungewollt" bekommt
Auch wenn die indische Gesetzgebung die Gleichberechtigung von Männern und Frauen vorsieht, die Tradition tut dies nicht. Jungs werden nach wie vor bevorzugt, Mädchen gelten vielen Eltern als Last. Letztes Jahr musste die indische Regierung zugeben, dass pro Jahr zwei Millionen Mädchen im Land fehlen: Entweder sie werden abgetrieben, nach der Geburt ermordet oder sie sterben an Vernachlässigung. Noch heute tragen einige Mädchen im Land den Namen "Nakuschi", der übersetzt so viel bedeutet wie "unerfreulich" oder "ungewollt". Auf Vatya trifft das ganz und gar nicht zu, ihre Mutter habe sich sehr gefreut, eine Tochter auf die Welt zu bringen. Vatya ist aber Feministin geworden, weil sie will, dass das, was sie und ihre Mutter durchmachen mussten, sich niemals mehr wiederholt.
"Als mein Vater gestorben ist, wurde meine Mutter von ihrer Familie gezwungen, einen anderen Mann zu heiraten. Damit das Kind einen Vater hat. Sie wollte mich alleine groß ziehen, aber das geht aus Sicht unserer Gesellschaft nicht. Und dieser neue Mann, den sie heiraten musste, hat mich dann sexuell missbraucht. Das war alles einfach keine gute Idee, dass sie da hinein gezwungen wurde."
Obwohl rund 430 Millionen Inderinnen bei den Wahlen abstimmen dürfen und bei den letzten Regionalwahlen mehr Frauen abgestimmt haben als Männer, ist die Rolle der Frau bei den großen Parteien überhaupt kein Wahlkampfthema. Frauen sind im indischen Parlament eine Ausnahme, sie machen dort 11% Prozent aus.
Nur rund 50km von der Hauptstadt Delhi liegt das Dorf Shobhapur. Allerdings fühlt es sich wie eine Zeitreise in die Vergangenheit an. Die Bauern pflügen ihre Felder mit Ochsen. Frauen gehen zum Dorfbrunnen, um Wasser zu holen. Rajni Kumar wirft ein buntes Tuch über ihren Kopf, bevor sie das Haus verlässt. Sie ist auf dem Weg zum Wahllokal: zum allerersten Mal darf sie ihre Stimme abgeben.
"Ich bin ein wenig aufgeregt, aber es fühlt sich supergut an."
Bei 40 Grad im Schatten klappern drinnen die Ventilatoren. Rajni zeigt ihre Wahlkarte und schlüpft dann hinter den großen grauen Karton, hinter dem die Wahlmaschine steht.
"Ich mache das zum ersten Mal" ruft sie den freiwilligen Wahlhelfern zu, die ihr dann die Maschine kurz erklären. Es gibt 15 Knöpfe, daneben sind Fotos der Kandidaten und noch wichtiger, die Symbole der Parteien. Die kennt in Indien jeder: Die Lotusblüte, der Elefant, das Fahrrad, die Hand oder Pfeil und Bogen. So können auch Rajnis Eltern zur Wahl gehen. Die Mutter ist Hausfrau und kann nicht lesen, ihr Vater arbeitet als Tagelöhner auf dem Feld, er kann gerade einmal seinen eigenen Namen schreiben.
Die Taste mit der Lotusblüte steht für Modis BJP
Rajni strahlt, ihre Stimme ist im digitalen Kasten, sie hat die Taste mit der Lotusblüte gedrückt: das Symbol für die Regierungspartei BJP. Die Menschen in ihrem Dorf könnten den Fortschritt, den er gebracht habe, ja direkt spüren und sehen, erzählt sie. Und fast jeder Haushalt habe eine eigene Toilette, sagt Rajni, huscht über den Hof und zeigt stolz das neue Badezimmer:
"Wir haben eine westliche Toilette eingebaut, damit es meine Großmutter leichter hat. Die Regierung hat uns Geld gegeben und wir haben auch noch was drauf gezahlt."
Das war eines der großen Ziele von Premierminister Modi. In seiner fünfjährigen Amtszeit sollte kein Inder mehr hinter Büschen oder auf Feldern sein Geschäft erledigen müssen. Umgerechnet rund 150 Euro hat die Regierung jedem Haushalt dazu gegeben, um den Bau von Toiletten zu ermöglichen. Kritiker werfen der Regierung vor, die Statistik zu schönen. Selbst wenn Toiletten gebaut wurden, nutzen die längst noch nicht alle. Einige Häuschen würden zu Abstellräumen umfunktioniert.
Höchste Alarmbereitschaft beim Wählen in Kaschmir
Während in Rajnis Dorf am Wahltag die Vögel am Himmel ihre Kreise ziehen, donnern über Rizas Kopf die Helikopter. Der junge Moslem lebt in Srinagar, das ist die Sommerhauptstadt von Kaschmir. Hunderttausende Soldaten sind ohnehin schon in seiner Region stationiert, an den Wahltagen sind es noch mehr, es gilt die höchste Alarmbereitschaft.
Seit Jahrzehnten wollen die Menschen in Kaschmir ihre Unabhängigkeit. Die fordern viele mit Gewalt ein, auch der 18-jährige Riza kann sich durchaus vorstellen, eines Tages als Märtyrer im Grab zu liegen:
"Ich habe schon hunderte Male darüber nachgedacht, auch in den Dschihad zu gehen. Ich habe keine Angst davor zu sterben, jeder muss eines Tages sterben. Dennoch, meine Eltern sagen, es sei noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen."
Riza studiert Wirtschaftswissenschaften, allerdings fallen die Seminare regelmäßig aus. Seit Jahren führen die Separatisten in der Region immer wieder Generalstreiks durch, um die indische Regierung zu zwingen, mit den Kaschmiris zu verhandeln.
Während in anderen Teilen Indiens die Menschen stundenlang Schlange stehen, räkeln sich in Srinagar die Straßenhunde mitten auf der Kreuzung. Die indischen Wahlen seien nicht seine Wahlen, er möchte, dass Kaschmir unabhängig wird, sagt Riza. Indien sei eine Besatzungsmacht, Soldaten und Paramilitärs würden ihn und seine Freunde wahllos verhaften:
"Die haben mich schon oft geschlagen, auch mitten auf der Straße. Einmal haben sie mir sogar den Arm gebrochen, nur weil ich eine Fahne getragen habe, auf der der Name unseres Propheten Mohammed geschrieben stand."
An die indische Demokratie glaubt er nicht, stattdessen hat er schon öfter Steine auf die Soldaten geworfen. Aus seiner Sicht die einzige Chance, Rache zu nehmen und auf die Situation der Menschen in Kaschmir aufmerksam zu machen. Die Vereinten Nationen haben im letzten Jahr einen Bericht veröffentlicht und darin auch den indischen Soldaten Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Auch während der Wahlen sind schon viele Steine von den Aufständischen geworfen worden oder es fallen Schüsse von den Sicherheitskräften. Dieses Mal ist es relativ ruhig geblieben.
Mehr Soldaten als Wähler in der Hauptstadt Srinagar
Mehr Soldaten als Wähler standen auf den Straßen der Hauptstadt Srinagar. Gerade einmal 13 Prozent der Wahlberechtigten hier haben ihre Stimme abgegeben. Auch wenn für die Menschen in Kaschmir die Wahlen kaum eine Rolle spielen, spielt ihre Region und damit auch der Konflikt mit dem Erzfeind Pakistan im indischen Wahlkampf eine außerordentliche. Vor allem für den amtierenden Premierminister Modi, der wieder zur Wahl antritt:
"Es liegt einfach in meiner Natur", sagte Narendra Modi in einer Rede an die Nation, "ich nehme Rache und werde jeden einzelnen Terroristen töten….Die Mission ist: Meinem Land zu dienen."
Modis Leben ist die Politik. Er stammt aus einer armen Familie, als Kind hatte er Tee verkauft, heute regiert er ein Land, in dem mehr als 1,3 Milliarden Menschen leben. Das imponiert auch Manvender Chauhar. Der 21-jährige aus dem Bundesstaat Bihar, im Osten von Indien, steht kurz davor, seinen Bachelor zu beenden. Für die Zeit danach hat er schon einen begehrten Vertrag mit der US-Firma Amazon in der Tasche. Manvender hat schon früh seinen Vater verloren, auch er hat sich ohne die Hilfe seiner Familie nach oben geboxt.
Für viele junge Menschen ist Narendra Modi ein Vorbild
Und genau deswegen ist Narendra Modi ein Vorbild für viele junge Menschen in Indien. Einem Land, in dem Jahrhunderte lang das Kastensystem keinen Aufstieg zugelassen hat. Allerdings sind die Regierenden im Parlament im Schnitt 65 Jahre alt. Die Menschen in Indien allerdings haben ein Durchschnittsalter von 26 Jahren. Die Jugendlichkeit stellt das Land vor eine riesige Herausforderung. Eine Million junge Menschen strömen jeden Monat neu auf den Arbeitsmarkt.
Im letzten Jahr zum Bespiel hat die indische Bahn Jobs ausgeschrieben – das Unternehmen ist eines der größten Arbeitgeber im Land. 28 Millionen Menschen haben sich darauf beworben. Laut Studien müsste Indien in den nächsten Jahren rund 100 Millionen junge Menschen ausbilden. Mindestens 1000 neue Universitäten bräuchte das Land dafür und rund 50.000 Colleges.
Manvender hat einen Platz an einer renommierten Universität in Delhi erhalten und hat mit harten Aufnahmeprüfungen Millionen Konkurrenten überrundet: "Auch wenn ich Modi wähle, vor allem was die Bildung und die Universitäten angeht, da ist nicht viel passiert. Ich hatte da mehr erwartet."
"Diese BJP-Politiker diskutieren nicht mit anderen"
Die Regierung unter Narendra Modi aber hat im Gegenteil die Ausgaben für die höhere Bildung im Land drastisch gekürzt. Auf den Mauern der Cafeteria der JNU haben die Studenten überall Graffitis der linken Ikone Che Guevara aufgesprüht. Dazwischen trinkt Vatya, die junge Feministin, ihren Tee. Sie macht sich große Sorgen, dass die regierende BJP wieder gewählt werden könnten. Sie meint, die Hindunationalisten würden ihr Land in den Grundfesten verändern und unter Modis Regierung sei das säkulare Indien ziemlich weit nach rechts gerückt:
"Sie reden von einem toleranten Indien, aber wie tolerant sind sie selbst? Diese BJP-Politiker diskutieren nicht mit anderen, dabei glauben wir an die Verfassung, die nicht."
In dem Wahlwerbe-Song rappen die Künstler darüber, was Premierminister Modi alles in den letzten Jahren erreicht habe. Fast alle Menschen hätten nun Strom, Toiletten und die Korruption sei stark zurückgegangen. Mavinder glaubt fest daran, dass sein Land auf dem richtigen Weg sei. Weltweit sei Indien zum wichtigsten Partner in Südasien geworden: "Die Welt steht hinter uns. Modi ist diplomatisch bestens aufgestellt, er hat viel Zeit darin investiert, Indien in einem guten Licht darzustellen, sodass die meisten westlichen Länder auf unserer Seite stehen."
Rajni, die Tochter eines Feldarbeiters, blickt auch positiv in die Zukunft. Sie will Lehrerin werden, ein Job, vom dem ihre Eltern niemals zu träumen gewagt hätten: "Alle meine Freundinnen studieren oder machen eine Ausbildung und unsere Eltern unterstützen uns. Sie wollen, dass ihre Töchter unabhängig werden."
Der Wirtschaftsstudent Riza glaubt fest an seinen Traum, dass Kaschmir eines Tages unabhängig sein wird. Wie auch immer sich dieser Wunsch erfüllen mag: "Jeder in Kaschmir trägt Hoffnung in sich, wir sind es leid, zu viele Menschen sind schon gestorben."
Viele der Millennials in Indien haben genügend Selbstbewusstsein, um sich den Herausforderungen in ihrem Land zu stellen. Sie haben es satt von altgedienten Politikern an den Rand gedrängt zu werden. Indiens Jugend sucht nach ihrer Chance. Wer auch immer die nächste Regierung führen wird, die Erwartung der jungen Inderinnen und Inder sind hoch.