Keine Debatten über Lösungen
Vor der russischen Duma-Wahl am Sonntag sind etwa die hohen Arzneipreise ein großes Thema. Aleksandr Petrow, Kandidat von Einiges Russland, macht Kontrollgänge durch Apotheken, begleitet von Lokalmedien. Ein typisches Beispiel dafür, wie die Regierungspartei sich im Wahlkampf in Szene setzt.
Jekaterinburg, russische Millionenstadt im Uralgebiet. Ein Mann betritt eine Apotheke. Er trägt einen Anzug und ein Abzeichen am Revers. "Deputat Gosudarstevennoj dumy" steht darauf, "Abgeordneter der Staatsduma".
Aleksandr Petrow ist Mitglied der Regierungspartei "Einiges Russland". Seit 2011 sitzt er im Parlament, und er kandidiert auch jetzt wieder. Es ist ein Tag Mitte August, noch ein guter Monat bis zur Wahl.
"Ich hatte Anfragen aus der Bevölkerung. Die Leute habe gesagt: Die Medikamente werden immer teurer, warum gehst du nicht in die Apotheken und kontrollierst das? Ich habe es ihnen versprochen."
Ihn begleiten etwa fünf Kamerateams und noch eine Handvoll Lokalreporter. Der Politiker lässt sich zwei Medikamente geben, hält die Packungen in die Kameras und wartet, bis alle Objektive auf ihn gerichtet sind. Es sind Tabletten gegen Magenkrämpfe:
"Das eine sind 28 Tabletten, das andere 24. Praktisch die gleiche Menge. Aber hier steht der Preis. Das eine kostet 206 Rubel, das andere 78. Eins ist in Ungarn hergestellt. Das andere, billigere, in Nowosibirsk in Russland."
Fast alles ist teurer geworden
Arzneipreise sind ein großes Thema in Russland. Die Inflation ist hoch, fast alles ist teurer geworden, Lebensmittel, aber auch Medikamente. Für lebenswichtige Arzneien gibt es eine Preisbindung. Doch manch anderes Mittel koste heute doppelt so viel wie noch vor einem Jahr, sagt Petrow. Er verdächtigt die Apotheker, absichtlich teurere Medikamente zu verkaufen, weil sie dabei mehr verdienen.
"Ich wende mich noch mal an unsere Fernsehzuschauer. Warum kaufen wir teurer ein als nötig? Wenn gesagt wird, die importierten Tabletten sind besser, die helfen, die russischen nicht − wer das glaubt, muss sehr ungebildet sein und sich selbst nicht lieben. Deshalb sage ich allen Fernsehzuschauern: Wenn Sie in die Apotheke kommen, fragen Sie nach dem Wirkstoff eines Medikaments."
Petrow bricht auf zur nächsten Apotheke. Er will den Kontrollgang auf keinen Fall als Wahlkampf verstanden wissen.
"Ich arbeite heute nicht als Kandidat, sondern als Verbraucher, als Experte."
Grigorij Melkonjants von der unabhängigen Wahlbeobachterorganisation "Golos" betrachtet Aktionen wie Petrows Apothekenrundgang mit Sorge − vor allem die Art, wie die örtlichen Medien darüber berichten.
"Niemand hält irgendeinen Kandidaten davon ab, Wahlkampf zu machen. Aber wenn ein Oppositionskandidat so eine Razzia macht, bleibt er mit seinem Team meist allein. Sobald es dagegen ein Kandidat aus dem System ist, werden alle Fernsehsender und Journalisten angewiesen zu berichten. Der Grund für diese Ungleichheit liegt in der Finanzierung der regionalen Medien in den Regionen. Die meisten werden aus öffentlichen Mitteln finanziert. Wenn sie sich weigern, über derlei Nicht-Ereignisse zu berichten, dann wird ihnen künftig das Geld gestrichen."
Aus dem Kreml hieß es mehrfach, diese Duma-Wahlen sollten transparent und fair verlaufen. Doch davon könne keine Rede sein, sagt Wahlbeobachter Melkonjants:
"In einer Region hat ein Kandidat von Einiges Russland mit Leuten Tee getrunken. Alle Medien haben drüber berichtet. Ich denke, viele Kandidaten trinken mit irgendwelchen Leuten Tee. Aber das interessiert keinen Journalisten. Die Leidtragenden sind die Wähler. Denn sie bekommen gar keine objektive Information darüber, wer überhaupt kandidiert. Sie sehen immer nur eine Partei und deren Kandidaten."
Umfragen zufolge liegt die Regierungspartei Einiges Russland in der Wählergunst weit vorn, bei rund 40 Prozent.
In der nächsten Apotheke gibt es einen Schalter, an dem sozial Benachteiligte kostenlose und vergünstigte Medikamente erhalten. Eine Frau steht mit ihrem Sohn an, er ist chronisch krank. Petrow geht auf sie zu:
"Entschuldigen Sie, ich bin aus der Staatsduma. Sie bekommen vergünstigte Arznei? Können wir ein bisschen reden?"
Er wendet sich den Kameras zu:
"Wir stellen 6,3 Milliarden Rubel für vergünstigte Medikamente bereit. Ich bin im Gesundheitsausschuss, ich stimme dafür, dass diese Gelder bewilligt werden, und mich interessiert, wie Sie, die Sie diese kostenlosen Medikamente erhalten, sich fühlen."
Die Frau schaut auf den Fußboden. Sie sei im Großen und Ganzen zufrieden.
Putins Ansehen ist hoch
Zwei Kundinnen beobachten die Szene. Tatjana Sirkowa und Ekaterina Tschjoluschkina sind Schwestern. Den Abgeordneten kennen sie nicht. Und was halten sie von Einiges Russland?
Putin sei ein Prachtkerl, sagt die eine. Russlands Präsident ist offiziell gar nicht Mitglied bei Einiges Russland. Die Partei wirbt trotzdem mit ihm. Putins Ansehen in der Bevölkerung ist hoch, seine Umfragewerte liegen bei rund 80 Prozent. Der Parteivorsitzende dagegen, Premierminister Dmitrij Medwedew, hat jüngst viele potenzielle Wähler verprellt. Als er bei einem Forum auf die niedrigen Gehälter von Lehrern in Russland angesprochen wurde, sagte er, Lehrer werde man aus Berufung. Tatjana Sirkowa, eine der Schwestern, ist Lehrerin:
"Es ist schon schade, dass unsere staatlichen Einrichtungen so wenig unterstützt werden. Ich weiß nicht, wahrscheinlich hat sich Dmitrij Medwedew auf Moskau bezogen und die Gehälter dort. Außerhalb Moskaus bekommen die Lehrer Hungerlöhne."
Sie wüssten noch nicht, wem sie am 18. September ihre Stimmen geben, sagen die beiden Frauen:
"Wichtig ist, was einer tut. Ob die Leute erst im Wahlkampf aktiv werden, oder ob sie schon vorher etwas machen, zum Beispiel bei Wohltätigkeitsaktionen."
Die LDPR zum Beispiel ist immer dabei, wenn es etwas für Kinder oder für die alte Leute gibt. Einiges Russland natürlich auch. Deren Kandidaten sind da ganz vorn.
Die LDPR, die rechtspopulistische Partei, die sich nur "liberaldemokratisch" nennt. Sie hat in der Duma zuletzt oft mit der Regierung gestimmt − wie auch die anderen beiden formal "oppositionellen" Parteien. Jüngsten Umfragen zufolge könnte die LDPR gut zehn Prozent der Stimmen erhalten und damit erstmals die Kommunisten von ihrem traditionellen zweiten Platz verdrängen.
Vier-Tage-Woche in der Monostadt
Die meisten Menschen in Russland interessieren sich nicht für Parteiprogramme. Sie erwarten von Politikern, dass sie Straßen asphaltieren, Parks erneuern, den Menschen bei Ärger mit den Behörden helfen. Das kann am ehesten, naturgemäß, Einiges Russland, denn ihre Mitglieder sitzen an den Schaltstellen der Macht, und ihre Partei hat am meisten Geld.
Ein Besuch in Sawolschje, einer 40.000-Einwohner-Stadt an der Wolga, im Gebiet Nischnij Nowgorod, rund 450 Kilometer östlich von Moskau. Feierabend im Motorenwerk. Es ist Donnerstagnachmittag, aber bereits Wochenende. Wegen der schlechten Konjunktur hat das Werk die Vier-Tage-Woche eingeführt und den Arbeitern die Löhne entsprechend gekürzt. In Massen strömen sie aus dem Werkstor. Sawolschje ist eine sogenannte Monostadt. Sie wurde in den 60er-Jahren um das Motorenwerk herum gebaut. In Spitzenzeiten arbeiteten dort 25.000 Menschen. Jetzt sind es noch 4.500. Die Krise hat auch in der Stadt Spuren hinterlassen. Die Fassaden blättern, Grünflächen sind zugewuchert, die Straßen voller Schlaglöcher. In der Siedlung gleich neben der Fabrik holen die Menschen das Wasser noch vom Brunnen. Aleksej, 42 Jahre, wartet auf den Bus:
"Sie machen was für die Kinder. Neue Spielplätze. Ich habe schon einige gesehen. Da möchte man gleich selbst spielen. Dafür bin ich leider zu alt."
Ob es die Stadt war, die die Spielplätze gebaut hat, oder die Partei − Aleksej weiß es nicht. Auch das ist typisch für den Wahlkampf im Jahr 2016, sagt der Wahlbeobachter Grigorij Melkonjants.
"Die Macht versucht, das Image von Einiges Russland, die Marke, vollständig in die alltägliche Arbeit der staatlichen Stellen zu integrieren. Die Leute können somit nicht mehr unterscheiden, was von der Partei kommt, was vom Gouverneur; ob die Partei einen Kindergarten oder eine Straße gebaut hat, ob das mit Steuergeldern bezahlt wurde. Die Macht hat ein Interesse daran, dass das beim Bürger durcheinander geht. Es entsteht der Eindruck, als würde alles, was der Staat tut, von Einiges Russland gemacht."
In Sawolschje sind am Sonntag auch Regionalwahlen. Den Monteur Aleskej interessieren sie mehr als die Dumawahl. Er will für den Kandidaten von Einiges Russland stimmen:
"Er wurde mir bei der Arbeit empfohlen. Er hat früher auch bei uns im Werk gearbeitet. Und er hat drei Kinder. Das sind genug Argumente."
Dass der Kandidat von Einiges Russland für die Motorenwerke gearbeitet hat, stimmt nicht. Aber er ist bereits Abgeordneter, und in dieser Funktion hat er den Arbeitern zum Geburtstag ihrer Fabrik gratuliert und den Veteranen einen Computer geschenkt.
US-Wahlkampf ist präsenter als der russische
Insgesamt verläuft der Wahlkampf in Russland schleppend, selbst in der letzten Woche vor dem Urnengang. Es gibt kaum Wahlkampfauftritte, die für Aufsehen sorgen, keine großen Bühnen. Die russischen Nachrichtenprogramme berichten weitaus mehr über den US-Wahlkampf und Hillary Clintons Gesundheitszustand als über die Parlamentswahl im eigenen Land. Turnusgemäß hätte die Wahl erst im Dezember stattfinden müssen. Das Parlament hat sie um drei Monate vorgezogen. Aus Kalkül, meint die Moskauer Politologin Jekaterina Schulman:
"Die Politik des Staates zielt ganz klar darauf, die Wahlbeteiligung gering zu halten. Dafür wurde viel getan. Im September sind die Leute gerade aus dem Urlaub zurück, sie sind beschäftigt, es ist Schulbeginn, vielleicht noch gutes Wetter, dann fahren die Leute am Wochenende lieber auf die Datscha. Und es wurden keine Parteien und Kandidaten zugelassen, die in der Lage wären, hohe öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Deshalb sind auch die Debatten uninteressant. Wenn drei alte langweilige Dummköpfe miteinander diskutieren, dann will das doch niemand sehen."
Gerade in Moskau könnten deshalb viele Menschen die Wahl ignorieren, erläutert die Politologin. Und davon profitiere die Regierung:
"Wenn die Wahlbeteiligung gering ist, steigt die Rolle derer, die organisiert und kollektiv wählen. Das sind Staatsangestellte, Polizisten, Armeeangehörige. Sie werden dafür sorgen, dass die Duma erneut relativ homogen aussehen wird."
14 Parteien sind zur Wahl zugelassen. Doch jüngsten Umfragen zufolge werden vermutlich weiterhin dieselben vier Parteien in der Duma vertreten sein wie bisher. Zwar hat Russland in diesem Jahr das Zwei-Stimmen-Wahlrecht wieder eingeführt. Doch die Chancen, dass auch Parteilose oder Kandidaten kleinerer Parteien über Direktmandate in die Duma einziehen, sind aufgrund der ungleichen Bedingungen gering.
Der Kulturpalast im Zentrum von Sawolschje. Hier trifft sich die Jugend. Es gibt Tanz-, Musik- und Modelgruppen. Die meisten Kurse sind kostenlos, der Palast wird von der Stadt finanziert. Am Sonntag wird hier ein Wahllokal eingerichtet, die Plakate hängen schon. Der Direktor Wjatscheslaw Jatschnikow bricht eine Packung Teebeutel an. Sie ist blau, in gelben Lettern steht "LDPR" darauf.
"Wenn ich Tee von Einiges Russland hätte, würde ich den auch trinken. Das ist Wahlkampfmaterial."
Jatschnikow hat gerade Besuch. Wladimir Uchanow ist da, Verwaltungsdirektor der Arbeitersiedlung "Erster Mai". Noch vor der Wahl ist dort ein Stadtfest, ein paar Ensembles aus dem Kulturpalast sollen auftreten. Und auch der Kandidat von Einiges Russland hat sich angekündigt. Uchanow lächelt.
"Ich werde Putin wählen. Welche Partei − das ist eigentlich egal. Die zentrale Aussage ist ja ohnehin bei allen Parteien gleich, egal, ob LDPR oder Gerechtes Russland, ob Einiges Russland oder Kommunisten: Ihnen allen geht es darum, Russland wieder groß zu machen. Sie können mich auch nachts wecken und ich stimme für Putin. Es gibt keinen anderen, der uns so einen könnte wie er."