Parlamentswahlen in der Türkei

"Diffamierungen statt Inhalte"

Unterstützer der regierenden AKP schwenken die Flagge der Türkei und halten ein Bild Erdogans hoch.
Unterstützer der regierenden AKP - der Partei des türkischen Staatspräsidenten Recep Erdogan © Sedat Suna, dpa picture-alliance
Gülistan Gürbey im Gespräch mit Dieter Kassel |
Die bevorstehenden Parlamentswahlen in der Türkei werden schicksalhaft den künftigen Kurs des Landes bestimmen – davon ist die türkische Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey überzeugt. Vom Staatspräsidenten Recep Erdogan erwartet sie nichts Gutes: Dieser wolle um jeden Preis seine Macht ausbauen und die Opposition behindern.
Die Türkei hat die Wahl - und die Parlamentswahlen am kommenden Sonntag sind alles andere als eine Lappalie. Denn nach Einschätzung der türkischen Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey hängt davon schicksalhaft die Zukunft des Landes ab.
Im Deutschlandradio Kultur sagte Gürbey, sie befürchte "eine gefährliche Entwicklung": Einen Vorgeschmack darauf habe spätestens Erdogans Wahl zum Staatspräsidenten im vergangenen Sommer gegeben.
"Er nutzt seine Vollmachten verfassungsrechtlich voll aus und übersteigt auch diese verfassungsrechtlichen Grenzen. Sein autoritärer Staatskurs ist nicht neu. Dieser würde noch weiter gefestigt werden. Er würde in der Tat als Allein-Schalter und -Verwalter des Gesamtsystems fungieren – und diese Rolle würde er massiv ausnutzen", betonte Gürbey, die als Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin tätig ist.
Instrumentalisierung der Religion
Die traditionelle Kontrolle und Begrenzung des Einflusses der Religion durch den Staat – einst von den Kemalisten etabliert – werde unter Erdogan und seiner Partei AKP aufgelöst: "Die türkische Behörde für religiöse Angelegenheiten ist ein Monstrum." Sie sei personell und finanziell deutlich besser ausgestattet als manch andere Behörde im Land. "Es ist ein Instrument der AKP-Regierung, um ihre religiös-konservativen Inhalte ... umzusetzen." Diese Instrumentalisierung der Religion sei unter der AKP "gang und gäbe".
Die Gesellschaft in der Türkei sei sehr stark polarisiert, und der Wahlkampf sei mehr durch gegenseitige Diffamierungen als durch Inhalte bestimmt, sagte Gürbey mit Blick auf gewalttätige Übergriffe in jüngster Zeit. Ziel der AKP sei es, mit allen Mitteln die kurdische Oppositionspartei HDP zu behindern und zu verhindern, dass diese die erforderliche Zehn-Prozent-Hürde nehme.


Das Interview im Wortlaut
Dieter Kassel: Wenn die AKP, die Partei des amtierenden Präsidenten Erdogan am Sonntag bei den Parlamentswahlen in der Türkei die absolute Mehrheit erringt, dann wird sich das Land radikal verändern. Denn dann führt Erdogan ein Präsidialsystem ein. Verhindern kann das quasi nur noch die kurdische Partei, HDP, aber ob sie die Zehn-Prozent-Hürde nimmt, das hängt nicht nur davon ab, wie viele nicht kurdische Türken sie wählen, sondern auch, wie viele der Kurden, denn das ist längst noch nicht klar, wie Iren Meier in Hakkari, einem kleinen Ort im Südosten der Türkei festgestellt hat.
((Einspielung))
Iren Meier berichtete aus dem kurdischen Örtchen Hakkari im Südosten der Türkei. Auch dort, wie im ganzen Land, wird am Sonntag darüber abgestimmt, ob Präsident Erdogan die Möglichkeit bekommt, quasi allmächtig zu werden. Denn genau darum geht es bei diesen Parlamentswahlen. Gülistan Gürbey ist Privatdozentin am Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin. Schönen guten Morgen, Frau Gürbey!
Gülistan Gürbey: Guten Morgen!
Kassel: Wollen die Menschen, die am Sonntag dann doch die AKP wählen werden, wollen die genau das, dass ihr Präsident Erdogan allmächtig wird?
Gürbey: Ja, das ist richtig. Die treuen AKP-Wähler, die die AKP immer gewählt haben, werden natürlich auch weiterhin AKP wählen, aber es gibt trotzdem in der Türkei Wählerklientel beziehungsweise Wähler, die hin und her wanken, die sozusagen unentschieden sind bei diesen Wahlen. Und die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass diese wankenden Stimmen dieses Mal nicht auf Kosten der AKP gehen werden.
Kassel: Nehmen wir aber mal an, die AKP würde die absolute Mehrheit erringen, und Erdogan würde das Präsidialsystem einführen – wie würde sich die Türkei dann verändern, Ihrer Meinung nach?
Gürbey: Wir haben ja inzwischen schon einen Geschmack davon ja bekommen, spätestens, seitdem Erdogan seit dem letzten Sommer Staatspräsident geworden ist. Er nutzt seine Vollmachten verfassungsrechtlich voll aus und übersteigt sozusagen auch diese verfassungsrechtlichen Grenzen. Sein autoritärer Staatskurs, das ist nicht neu. Dieser würde sozusagen noch weiter gefestigt werden. Er würde in der Tat als Alleinschalter und -verwalter des gesamten politischen Systems und der Gesellschaft fungieren, und diese Rolle würde er massiv ausnutzen. Deswegen ist das eine gefährliche Entwicklung auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist sozusagen das System der Checks and Balances, das wir bei den Präsidialsystemen kennen, in der Türkei eigentlich in diesem Ausmaße nicht gegeben. Das hängt damit zusammen, dass die politische Opposition teilweise natürlich nicht stark ist, dass die politische Kultur des Landes, die sich seit der Gründung der Republik ja entwickelt hat, im Grunde genommen auch gekennzeichnet ist eben durch eine sehr starke, autoritäre Staatstradition, was sich jetzt unter der AKP, unter Erdogan noch mal zeigt, natürlich mit anderen Inhalten als zuvor. Deswegen ist diese Wahl tatsächlich eine Richtungswahl für die Türkei und damit auch für die Zukunft des gesamten Landes.
Trennung von Politik und Religion ist in Gefahr
Kassel: Zur politischen Kultur der Türkei, die Sie gerade erwähnt haben, gehört ja eigentlich auch eine Trennung von Politik und Religion. Was würde sich da Ihrer Meinung nach in diesem Punkt entwickeln, wenn die Präsidialrepublik kommt?
Gürbey: Die Trennung von Politik und Religion, die ist verfassungsrechtlich immer gegeben, aber in der politischen Wirklichkeit in der Türkei hat der Staat immer Einfluss auf die Religion gehabt. Wenn Sie so wollen, unter den Kemalisten zuvor ist die Religion auch instrumentalisiert worden beziehungsweise versucht worden zu verhindern, dass die Politik in erster Linie nicht mit religiösen Inhalten geleitet ist. Das war sozusagen der Kernpunkt. Aber unter der AKP hat sich das gewandelt.
Die türkische Behörde für religiöse Angelegenheiten ist ein Monstrum, eine Einrichtung, stärker als viele andere Ministerien, was die Personalanzahl angeht, was das gesamte Budget des Landes angeht. Und das ist natürlich ein Instrument der AKP-Regierung, ihre religiös-konservativen Inhalte gerade auch über diese religiöse staatliche Behörde umzusetzen. Instrumentalisierung der Religion ist gang und gäbe unter der AKP, und das wird sich weiterhin verstärken. Wir haben ja diesen Prozess sowieso, diese Rückbesinnung auf die, wenn Sie so wollen, muslimische Identität, gekoppelt mit der glorreichen osmanischen Geschichte. Diese beiden Elemente gehen ja querbeet ineinander, und das wird ganz stark ideologisch instrumentalisiert unter der AKP-Regierung und unter Erdogan. Das ist im Kern auch die ideologische Grundlage der AKP.
Kassel: Ich habe es vorhin schon erwähnt, es ist immer wieder auch zu Gewalt gekommen im Vorfeld dieser Parlamentswahlen, zum letzten Mal gestern, als sogar ein Fahrer, ein Wahlkampfmitarbeiter der HDP erschossen wurde. Wie groß ist denn die Spaltung inzwischen in der Türkei zwischen den Anhängern von Erdogan und seinen Gegnern?
Gürbey: Die Gesellschaft ist sehr stark polarisiert. Und die Wahlkämpfe in der Türkei sind sehr belebte Wahlkämpfe. Die ganzen Wahlkampfkonvois, die durch das gesamte Land ziehen, sind das eine. Das andere ist aber, dass die Wahlkampf-??? sich dadurch auszeichnen, dass nicht über Inhalte gesprochen wird, sondern Diffamierung in erster Linie stattfindet, dass also Personen, Politiker sich gegenseitig angreifen und versuchen, sich zu diffamieren. Es ist in der Tat so, dass es Übergriffe gegeben hat, also in erster Linie natürlich Übergriffe auf die HDP, auf die kurdische HDP. Wie Sie gerade auch gesagt haben, ist ein Fahrer eines der Konvois getötet worden. Gestern ist noch ein anderer angegriffen worden. Die Menschenrechtsorganisation hat mittlerweile die Angabe gemacht, dass innerhalb der letzten fünf Monate, also insbesondere seit Beginn dieser Wahlkampfkampagne die HDP mehr als hundert Übergriffe hatte.
Die prokurdische Opposition ist unter Druck
Und Gewalt geht einher sozusagen mit dieser polarisierten Gesellschaft, die die Politiker sehr stark nutzen, natürlich auch Erdogan ganz massiv. Und die prokurdische HDP ist geradezu der politische Gegner der AKP. Das Ziel der AKP und das Ziel von Erdogan und der gesamten Politiker der AKP ist, zu verhindern, dass die HDP die Zehn-Prozent-Wahlhürde überschreitet. Und dazu gehören diese Mittel sozusagen der politischen Diffamierung. Das ist unglaublich, unter welchem Druck die HDP zurzeit steht.
Kassel: Gülistan Gürbey, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin über die Parlamentswahlen am Sonntag in der Türkei, die darüber entscheiden, ob das Land eine Präsidialrepublik wird oder nicht. Frau Gürbey, vielen Dank für das Gespräch!
Gürbey: Sehr gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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