Parteienkrise

"Die goldenen Zeiten sind vorbei"

Die von Rainer Fetting geschaffene Bronzeskulptur von Willy Brandt in der Parteizentrale der SPD in der Wilhelmstraße in Berlin, aufgenommen im August 2008.
Anders als zur Regierungszeit von Willy Brandt kann sich die SPD nicht mehr auf ihre traditionellen Milieus verlassen. © Picture Alliance / dpa / Hurek
Gero Neugebauer im Gespräch mit Nana Brink |
Angesichts der sozialen Ungleichheit in Deutschland habe die Politik erhebliche Aufgaben vor sich, sagt der Politologe Gero Neugebauer. Er kritisiert, dass dies in den Parteien häufig verdrängt werde. Man scheue sich, tiefere Einschnitte zu machen.
"Parteien müssen sich auch mit globalen oder europäischen Einflüssen befassen", sagt der Parteienforscher Gero Neugebauer über die neuen Herausforderungen für die Politik im Deutschlandradio Kultur. "Viele Leute sind heute gar nicht mehr so daran interessiert, dass es ihnen unbedingt besser geht. Sie wollen, dass es ihnen nicht schlechter geht." Die Kommunikation mit den Wählern und Wählerinnen sei für die Parteien komplizierter geworden.

Große politische Milieus existieren nicht mehr

Neugebauer rügt, dass viele Probleme den Populisten überlassen würden. Die versprächen einfache Lösungen. "Man kommt da tatsächlich in eine sehr unterschiedliche, auch tiefe Vielfalt von Interessen und Bedürfnissen", sagt Neubauer über die Veränderungen der politischen Landschaft. Parteien stießen heute auf eine Gesellschaft, die eben nicht mehr dadurch gekennzeichnet sei, dass da noch "große soziale Milieus" existierten und der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter sage, die SPD sei seine Partei. "Die goldenen Zeiten sind vorbei."

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Kollektives Versagen haben ein paar prominente Politiker, unter ihnen Altbundespräsident Roman Herzog und die SPD-Politikerin Renate Schmidt, ihren Parteien vorgeworfen. Nicht irgendwie und irgendwo, sondern in einem Artikel in der "FAZ": Die Parteien würden nicht mehr hören, was die Bürger wollen, sie hätten das falsche Personal und überhaupt sei der politische Kurs auf ein Niveau gesunken, das Populismus nährt. Starker Tobak! Das ist natürlich nicht ungehört geblieben und selbst SPD-Bundesvize Ralf Stegner, mit dem ich ja gestern hier gesprochen habe, musste einräumen, dass es nicht zum Besten steht mit einer Volkspartei, die bei unter 20 Prozent dümpelt.
O-Ton Ralf Stegner: Wenn ich an einer Haustür klingele, um mit jemandem zu reden, darf ich nicht das Gesicht machen, das aussagt: Gott sei Dank muss ich hier nicht wohnen und bin gleich wieder weg! Sondern vielleicht eher: Kann ich was tun dafür, dass du vielleicht nicht mehr unter solchen Bedingungen wohnen musst, sondern dass sich die Sachen für dich verbessern. Der Sinn von Politik besteht darin, das Leben der Menschen zu verbessern, hat Willy Brandt mal gesagt, und das müssen wir schon noch ausstrahlen. Das tun wir sicherlich nicht überall.
Allerdings, wenn ich das auch sagen darf, Frau Brink, ist natürlich das alleinige Parteien-Bashing sozusagen auch nicht angebracht, denn Teil dieser politischen Kommunikation sind auch die Medien, ist auch die Wirtschaft, ist auch die Wissenschaft, sind auch andere Parteien. Die wirken bei der demokratischen Willensbildung mit, aber da sind natürlich viele beteiligt.
Brink: SPD-Bundesvize Ralf Stegner, gestern habe ich mit ihm gesprochen. Und nun bin ich verbunden mit dem Politikwissenschaftler Gero Neugebauer, der hat sich schwerpunktmäßig lange mit der deutschen Parteienlandschaft und auch speziell mit der SPD befasst. Ich grüße Sie, schönen guten Morgen!
Gero Neugebauer: Guten Morgen, Frau Brink!
Brink: Brandt zu zitieren, das ist ja eigentlich nie falsch für ein SPD-Mitglied. Löst denn die SPD diesen Anspruch ein?
Neugebauer: Nein. Weil die Zeiten, in denen Brandt das formuliert hat, ganz andere Zeiten waren. Da stand der SPD noch eine nationale Wirtschaftspolitik, nationale Industriepolitik zur Verfügung, da hat man in einem überschaubaren Rahmen agiert. Heute sind die Einflüsse auf die nationale Politik viel stärker, Parteien müssen sich auch mit globalen oder europäischen Einflüssen befassen. Und viele Leute sind heute gar nicht mehr so daran interessiert, dass es ihnen unbedingt besser geht, sie wollen, dass es ihnen nicht schlechter geht. Also, die Herausforderungen sind komplizierter geworden und die Kommunikation mit den Wählerinnen und Wählern natürlich auch.

Vielfalt von Interessen und Bedürfnissen

Brink: Bleiben wir mal bei dieser Kommunikation, das ist ja das, was genauso kritisiert wird. Die Rede ist davon, eine Politik zu machen, damit es den Menschen besser geht oder nicht schlechter. Das Interessante ist: Vielen geht es ja eigentlich gar nicht schlechter, auch wenn wir jetzt eine Million Flüchtlinge im Land haben. Aber vielleicht nehmen sie das nicht wahr. Was macht dann Politik falsch?
Neugebauer: Die Wahrnehmung der Probleme der Menschen ist häufig gerichtet auf die, die sich auch sozusagen konkret nachweisen lassen. Aber was wahrgenommen wird beispielsweise in Aussagen und sich dann als unmöglich herausstellt, weil es beispielsweise eben keine religiöse Überfremdung gibt, weil es den Leuten ja, wie Sie sagen, nicht schlecht geht, das verdrängt dann die Tatsache, dass man mal nachfragt und sagt: Geht es Ihnen tatsächlich nicht schlecht? Dann stellen wir doch fest, wenn die soziale Ungleichheit in Deutschland dazu führt, dass viele Kinder aus unteren sozialen Schichten keine Aufstiegsmöglichkeiten haben, weil ihre Bildungschancen schlecht sind, dass Leute im Gesundheitswesen darunter leiden müssen, dass sie schlecht versorgt werden, dass in bestimmten Bereichen der Gesellschaft die Verteilung von Arm und Reich so groß ist, dass viele gar keine Chancen haben, von denen aber immer die Rede ist, dann hat die Politik doch erhebliche Aufgaben vor sich, die aber, na ja, manchmal vielleicht auch aus Gründen, weil man sich scheut, tiefere Einschnitte zu machen, verdrängt werden, oder sie werden dann den Populisten überlassen, das heißt Leute, die sagen: Ach, die Probleme sind zwar kompliziert, aber wir können sie ganz einfach machen und wir können sie auch ganz einfach dadurch lösen, indem wir beispielsweise alle Ausländer rausschicken oder eben grandios mit irgendeiner Steuer quer durchs Land ziehen.
Und das ist ein Problem, hier diese Differenzierungen so deutlich zu machen, dass die Menschen sagen: Okay, davon bin ich betroffen, da kann ich mich auch sozusagen mit einbringen. Aber andere sagen: Nein, will ich ja gar nicht. Und alle Formen von Verhalten gegenüber politischer Kommunikation sind nicht auf einen Nenner zu bringen. Es gibt Leute, die sagen: Ich bin zufrieden. Andere sagen: Oh, ich will die Revolution. Dritte sagen: Ich will überhaupt keine Veränderung haben, weil die alles nur zum Schlechteren führt. Vierte sagen: Ich will, dass mein Aufstiegsinteresse gefördert wird. Also, man kommt da tatsächlich in eine sehr unterschiedliche, auch tiefe Vielfalt von Interessen und Bedürfnissen und die Parteien selbst stoßen auf eine Gesellschaft, die eben nicht mehr dadurch gekennzeichnet ist, dass da große soziale Gruppen, die großen sozialen Milieus noch existieren oder ein gewerkschaftlich organisierter Arbeiter sagte, die SPD ist meine Partei, und deren Interesse, mir ständig steigendes Einkommen zu verschaffen, das ist genau für mich das Richtige, und die katholische Beamtenschaft wählt halt CDU und die protestantische Mittelschicht alter Art geht zur FDP. Die goldenen Zeiten sind vorbei.

20 Prozent sind eher ein Marketing-Gag

Brink: Aber es ist ja interessant, dass die SPD ja gerade verzweifelt versucht, da doch irgendwie einzuhaken, nicht? Sie haben ja alle möglichen Projekte irgendwie losgeschickt – also, ich sage mal nur Mindestlohn und so weiter –, um ja auch so unterschiedliche Bedürfnisse zu bedienen, und trotzdem sozusagen schmieren sie ab unter 20 Prozent.
Neugebauer: Ja, sie schmieren ab. Die 20 Prozent sind eher ein Marketing-Gag, Sie hätten auch 21 sagen können. Aber sie schmieren ab, weil wir seit Jahrzehnten beobachten, dass die Parteien programmatisch und dann auch in der Politik – und geschieht besonders deutlich seit 2005, als Frau Merkel merkte, dass sie mit ihrem .. marktkonformen Demokratiekonzept, wo halt der Markt eine größere Rolle spielen sollte als der Staat, nicht klarkam und sie dann festgestellt hat: Es ist besser, doch nach sozialdemokratischen Lösungen zu suchen, den Staat eine bestimmte Rolle spielen zu lassen und dabei eben mehr und mehr auch programmatisch auf die Mitte hinzurückte, ihre Partei begann, sich zu wandeln – unter Druck von oben.
Die Reformpolitik von Frau von der Leyen sozusagen, administriert, hat ja dazu geführt, dass viele verunsichert worden sind. Und die Sozialdemokratie selbst sagt: Ach nee, links ist ja eigentlich für uns nicht genügend Raum, wir müssen auch in die Mitte gehen. Und dieser Gang in die Mitte führte dann dazu, dass die Profile der Parteien verflachten, die Alternativen geringer wurden, Leute, die – um das mal bildlich zu machen – auf den Wählermarkt kamen, sich in den Kiosken anschauten, welche Angebote sind denn da, feststellten, die sind eigentlich immer ähnlicher, und dann geneigt waren zu sagen: Na ja, okay, gefällt mir eigentlich gar nichts, ich gehe lieber ein Extrem kaufen. Oder sie gingen und kauften gar nichts oder sie kauften da, wo die Marketingstrategie am besten war. Und um das wieder zurückzuübersetzen: Da war Frau Merkel oder ist Frau Merkel eben seit mehr als zehn Jahren die Erfolgreichste von allen, die das macht.
Brink: Das heißt, die SPD muss eigentlich nach links rutschen, oder muss genau da mehr Profil gewinnen? Mal ganz platt gesagt?
Neugebauer: Sie muss ganz platt gesagt, mehr Profil gewinnen, da gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sie macht deutlich, warum ist das Angebot soziale Gerechtigkeit, diese werteorientierte Politik, warum ist das heute ein Angebot, das nicht mehr zieht? Die Antwort heißt: Alle reden von sozialer Gerechtigkeit, es ist notwendig, deutlich darzustellen, was ist das Spezifische an sozialdemokratischer sozialer Gerechtigkeit. Und dann das Zweite ist: Es gibt keine nationalen Angebote mehr, man muss alles einbeziehen, was sozusagen als Globalisierungseffekte … Ob das nun von den Fluchtbewegungen bis hin zu den ökonomischen Auswirkungen, wo wir bisher ja nur die Vorteile genossen haben … Wie weit sich das auf Politik auswirkt, ob die Politik jetzt auch in andere Räume reingehen muss.
Und dann zu sagen: Wir kommen mit den alten Rezepten nicht weiter, aber wir kommen auch mit den alten Begriffen nicht weiter. Nur, es ist schlicht und einfach notwendig zu sagen: Wo ist die Alternative? Und wenn die Alternative nicht deutlich genug gemacht wird, dann sagen eben viele Wählerinnen und Wähler, sofern sie dann noch wählen gehen: Ja, dann wähle ich doch lieber den, der mir vertraut ist und der mir dann auch in Krisenzeiten – und viele Leute fühlen ja, dass es Krisenzeiten sind – der vertrautere oder die vertrautere Person ist, auf die ich als Krisenmanagerin dann auch setze.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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