Parteienverdrossenheit

Mehr Macht für die Bürger

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Illustration: Ein roter und blauer Arm stecken gleichzeitig Stimmzettel in eine Wahlurne.
Bürgerinnen und Bürger sind mehr als Wähler: Der Philosoph Philip Kovce fordert, alternative Institutionen politischer Willensbildung zu stärken. © imago / Ikon Images / Benjamin Harte
Überlegungen von Philip Kovce · 13.09.2021
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Bundesweite Volksabstimmungen, geloste Bürgerräte oder -parlamente: Mit solchen Instrumenten ließe sich die grassierende Politikverdrossenheit bekämpfen, meint der Philosoph Philip Kovce. Denn die sei eigentlich bloß eine Parteienverdrossenheit.
Wenn demnächst wieder Bundestagswahlsonntag ist, dann droht eine historische Qual der Wahl: Strebten bei der ersten Bundestagswahl 1949 noch verhältnismäßig überschaubare 14 Parteien Parlamentssitze an, so sind diesmal insgesamt 54 Parteien zugelassen – so viele wie nie zuvor.
Das ist zunächst insofern erstaunlich, als die viel zitierte Politikverdrossenheit vor allem eine Parteienverdrossenheit ist. So haben etwa die aktuell im Bundestag vertretenen Parteien seit 1990 durchschnittlich rund die Hälfte ihrer Mitglieder eingebüßt. Nur noch rund eine Million Bundesbürger sind Mitglieder jener Parteien, deren Abgeordnete im Hohen Haus eine rund 80-Millionen-Bevölkerung vertreten.
Das bundestagswahlbetreffende 54-Parteien-Allzeithoch sollte angesichts dessen nicht vorschnell als Erfolgsgeschichte parteipolitischer Vergemeinschaftung gedeutet werden. Im Gegenteil.
Vieles spricht dafür, die Gründungen zahlreicher Ein-Themen-, Spaß- und Splitterparteien, die zunehmend die Stimmzettel verlängern, ebenfalls als Anzeichen grassierender Parteienverdrossenheit zu verstehen – genauer gesagt: als teils selbstironische, teils bierernste Verzweiflungsakte mangels parteiunabhängiger Alternativen politischer Mitbestimmung.

Dienen Parteien dem Gemeinwohl?

Völlig zu Recht hat der Philosoph Jörg Phil Friedrich auf diesem Sendeplatz neulich angemerkt, dass die Unberechenbarkeit der Welt nicht in Parteiprogramme passe, weshalb die persönliche Eignung der Parlamentarier in spe besonders beachtet werden solle. Doch schließt sich daran die grundsätzliche Frage an, ob Parteipolitik überhaupt den Königsweg parlamentarischer Rekrutierung und demokratischer Entscheidungsfindung weist.
Die französische Philosophin Simone Weil hat diese Frage eindeutig verneint. In ihrer 1950 posthum veröffentlichten "Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien" gibt Weil zu bedenken, dass Parteien strukturbedingt weder Wahrheit noch Gerechtigkeit oder dem Gemeinwohl dienten. Vielmehr befeuerten sie kollektive Leidenschaft, übten Druck auf das Denken ihrer Mitglieder aus und bezweckten allein das eigene Machtwachstum.

Die Macht der Parteien brechen

Anstelle von Bullshit-Nullsprech, Klientelismus und Allmachtsfantasien, die freilich auch heutzutage im parteipolitischen Milieu wuchern, fordert Weil, sich den "schrecklich komplexen Problemen des öffentlichen Lebens" unverstellt auszusetzen. Es geht ihr nicht um ein unpersönlich-parteiisches, sondern um ein persönlich-unparteiisches Verhältnis zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Gemeinwohl, das sich im Ringen mit anderen auf Augenhöhe stets neu zu bewähren hat.
Wer dieses Anliegen teilt, der muss Parteien zwar nicht direkt abschaffen, aber durchaus indirekt entmachten, indem er alternative Institutionen politischer Willensbildung stärkt. Geloste Bürgerräte, ja womöglich sogar ein ständiges, regelmäßig gelostes Bürgerparlament, sowie bundesweite Volksinitiativen und Volksabstimmungen würden beispielsweise weniger Parteien- und mehr Volksherrschaft wagen.

Eine Expertokratie ist keine Lösung

Das scheint hierzulande dringend geboten, denn obwohl das Grundgesetz die Volkssouveränität betont, werden legislative, exekutive und judikative Gewalt in der Bundesrepublik de facto parteipolitisch dominiert. Das führt unter anderem dazu, dass der real existierende Fraktionszwang das verfassungsrechtlich geschützte freie Bundestagsmandat flächendeckend korrumpiert.
Bleibt schließlich noch anzumerken, dass sich die radikaldemokratische Parteienkritik klar von ihrem antidemokratischen Pendant unterscheidet, das derzeit Konjunktur hat. Doch wie verständlich die Sehnsucht nach expertokratischem Res-publica-Management im Viruschaos auch sein mag, es gilt, dieser totalitär-technokratischen Versuchung zu widerstehen. Jedenfalls dann, wenn wir keine illiberal-postdemokratische Verfassung etablieren, sondern unsere freiheitliche demokratische Grundordnung verteidigen wollen.

Philip Kovce, geboren 1986, Ökonom und Philosoph, forscht an den Universitäten Witten/Herdecke und Freiburg im Breisgau sowie am Basler Philosophicum. Er gehört dem Think Tank 30 des Club of Rome sowie dem Forschungsnetzwerk Neopolis an. Jüngst gab er bei AQUINarte eine bibliophile Ausgabe von Friedrich Schillers "Ästhetischen Briefen" heraus.

© Stefan Pangritz
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