Debatte zu Ivan Nagels gesammelten Schriften

Parteigänger der Theaterleute soll der Kritiker sein

Ivan Nagel
Ivan Nagel - hier war er Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, aufgenommen am 7.1.1972. © picture-alliance / dpa / Heidtmann
Von Hartmut Krug |
Was kann und soll Theaterkritik heute überhaupt noch leisten? Darüber hätte es in der Diskussion zwischen zwei Theaterleitern und zwei Theaterkritikern an der Berliner Akademie der Künste eigentlich gehen können. Aber die Herren wollten nur über ihr Theater reden.
Man hätte es wissen können. Wenn man zwei Theaterleiter und zwei Theaterkritiker der älteren Generation auf ein Podium setzt, um sie über das Verhältnis von Theater und Theaterkritik heute diskutieren zu lassen, dann reden alle zusammen nicht über das Thema, sondern nur grundsätzlich - über das Theater und die Welt. Und da der Moderator, Nikolas Merck vom Internet-Portal nachtkritik.de, nur zaghaft versuchte, die Herren, die über viele Organisations- und Profilprobleme des Theaters debattierten, zum Thema Theaterkritik zurück zu führen, verlor sich dieses schließlich fast ganz.

Dabei wäre man mit dem Anlass der Diskussion, nämlich mit der Herausgabe von zwei Bänden Ivan Nagels gesammelter Schriften, sofort bei der Theaterkritik und dem Wandel ihrer Erscheinungs- und Wirkungsweise gewesen. "Schriften zum Drama" und "Schriften zum Theater" heißen die beiden Bände. Ihre langen Essays über Theaterleute und Inszenierungen von den 60er- bis zu den 90er-Jahren sind mit großem Gewinn zu lesen. Nur: reine Theaterkritiken sind das nicht, sondern überarbeitete und erweiterte Texte, denen im Einzelfall durchaus Theaterkritiken zu Grunde liegen mögen.

Diese umfänglichen und wunderbar gelehrten Analysen kann man heute allenfalls in Theaterfachzeitschriften veröffentlichen. Was zur Frage hätte führen können, was Theaterkritik heute überhaupt erlaubt wird zu leisten. Doch was Theaterleute von einer Theaterkritik erwarten und erwarten können, die von der Schrumpfung der Feuilletons und Kultursendungen bedroht und unter totalen Aktualitätsdruck gesetzt ist, war weder Thema noch Frage. Auch nicht, welche Formate es noch gibt, und warum sich an Stelle der Theaterkritik die Vorab-Kulturtipps und Porträts ausbreiten. Sogar, dass mit dem allmählichen Verschwinden des Theaters aus dem Zentrum des gesellschaftlichen Interesses auch die Lust an längeren Theaterkritiken beim Leser und Hörer nachlässt, war kein Thema. Die Herren wollten eben über ihr Theater reden.

Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters, widersprach immerhin Ivan Nagel, der einen Qualitätsverlust der Theaterkritik behauptete:

"Die Theaterkritik hat es auch schwerer. Weil sie natürlich wie das Theater in diesen Zeiten viel weniger zentral da ist. Das löst sich alles in einem Mediennetz, in einer ganz anderen Welt, auf, aber es bleibt nicht da drin. Ich würde vehement sagen, dass die Städte nach wie vor Kernbestand demokratischer und gemeinschaftsfähiger Möglichkeiten sind. Und deswegen sind beispielsweise auch die Theater, die in diesen Städten wirken, nicht überflüssig."

Schon aber war man wieder bei pauschalisierenden Gesellschaftsanalysen und verglich den Riss, der in den 60er-Jahren durch die Gesellschaft ging, mit dem, der unsere heutige neoliberale Welt zerteilt. Ivan Nagel klagte:

"Im Theater, aber auch noch gleichzeitig in der Theaterkritik, findet eine ungeheuer sich ausbreitende Profillosigkeit oder ein Mangel von Parteinahmen, und sei es an der Kreation von fiktiven Parteien, breitet sich aus. Dieses Amorphe, dieser Mangel an Stellungnahme, dieser Mangel an Interesse, was die Leute bewegen könnte, wenn man das ihnen radikal und plastisch genug, was wiederum Aufgabe der Kunst wäre, zeigen, vorführen kann."

Und Matthias Lilenthal, Geschäftsführer des Berliner Hau, wies darauf hin, dass die Rolle, die die Intellektuellen in den 70er-Jahren gespielt hätten, jetzt von der Wirtschaft übernommen worden seien. Doch das Theater suche zu reagieren:

"Natürlich gibt es letztendlich Antworten in der Theaterarbeit. So was wie der Besuch der Aktionärsversammlung von Daimler durch Rimini Protokoll - also, wenn ich mit den Dreien von Rimini Protokoll darüber rede, dann ist natürlich die Antwort, dass in diesem Moment wir nichts anderes tun können, als einen Blick zu verschieben. Und durch die Verschiebung des Blicks wird dann zum Beispiel die Aktionärsversammlung von Daimler zu einem schlechten Schmierentheater und denunziert sich auf eine bestimmte Art und Weise."

Die Frage des Moderators, inwieweit ein Generationenzusammenhang zwischen Theaterleuten und Kritikern bestehen müsse, brachte Henning Rischbieter, Gründer des Theaterfachblattes "Theater heute", immerhin zu Reflexionen über die Möglichkeit freundschaftlicher Verhältnisse zwischen Theaterleuten und Kritikern.

"Einer meiner engsten Freunde war Peter Palitzsch. Und es ist eher produktiver, wenn sich derjenige, der über Theater schreibt, in einem Prozess auch des Umgangs, des Meinungsaustausches mit denen befindet, die das Theater produzieren."

Parteigänger der Theaterleute soll der Kritiker sein, so die vorherrschende Meinung auf dem Podium. Kein Zufall, dass von den anderen, denen sich ein Kritiker verpflichtet fühlen muss, nie die Rede war: von den Rezipienten, also vom Hörer oder Leser. Der Kritiker Friedrich Luft sah das Verhältnis zwischen Theaterkünstlern und Theaterkritiker völlig anders. Als ihn eine Schauspielerin ansprach, wehrte er sie mit den Worten ab: Mit ihnen darf ich überhaupt nicht reden. Eine Anekdote, über die man hätte reden können. Weil sie nur auf den ersten Blick albern erscheint, in Wirklichkeit aber etwas über ein Kritikerethos erzählt. Das mag altmodisch scheinen und sein, aber man hätte diskutieren können. Chance vertan.

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