Aufs Erzählen und Zuhören kommt es an
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Bei ihrem Parteitag sollten die Grünen nicht nur an ihrem Programm arbeiten, sondern auch an ihrer politischen Erzählung, sagt der Narrationsforscher Michael Müller. Nur mit einem guten Narrativ bringe man Argumente und Fakten auch unter die Leute.
Die Grünen kommen heute zu einem digitalen Bundesparteitag zusammen. Drei Tage lang geht es um Programmdiskussionen und darum, sich auf das Wahljahr 2021 einzustimmen. Und auch darum, eine neue Erzählung für die politischen Inhalte der Partei zu finden.
Zu Beginn der Coronakrise sei der Eindruck entstanden, als sei der Höhenflug der Grünen nun erst einmal vorbei, sagt Michael Müller, Leiter des Instituts für Narrationsforschung an der Hochschule für Medien in Stuttgart. Er habe aber das Gefühl, dass das "Klimaschutz-Narrativ" nun wieder stärker werde - weil vielen Menschen klar werde, dass es auch eine Zeit nach Corona geben wird.
Mitdenken, was andere erzählen könnten
"Im politischen Storytelling spielt nicht nur die Geschichte, die ich selber erzähle, eine Rolle, sondern auch die, die andere über mich erzählen", betont der Experte. Ein gutes Beispiel dafür sei der "Veggie Day". Das sei eigentlich nur ein harmloser Vorschlag der Grünen gewesen, in den Kantinen einmal pro Woche nur vegetarisches Essen anzubieten.
Daraufhin habe die Boulevardpresse die Grünen aber zur "Verbotspartei" umgedeutet, nach dem Motto: "Die nehmen uns unser Schnitzel weg." Die hohe Kunst des politischen Storytellings sei: "Ich muss immer mitkalkulieren: Was könnten andere aus den Geschichten machen, die ich in die Welt stelle."
Auch Storylistening ist wichtig
Alle politischen Parteien sollten nicht nur Storytelling, sondern auch Storylistening betreiben, empfiehlt der Experte: "Das heißt, mehr zuzuhören, welche Geschichten sind eigentlich in der Bevölkerung, bei den Menschen vorhanden", so Müller: "Was für Erfahrungen und Erlebnisse bewegen die Menschen?" Corona sei gerade ein sehr starkes Erlebnisfeld. Die Parteien müssten überlegen, wie sie da anschließen könnten.
Es sei ein Problem, "dass die Parteiprogramme kaum jemanden interessieren außerhalb der Partei", sagt der Medienforscher. Viele Politiker glaubten immer noch, dass Politik mit Argumenten und Fakten betrieben werde und man damit Wähler gewinne. "Natürlich braucht man Argumente und Fakten, das ist die Grundlage von allem, aber dann brauche ich eben auch gute Narrative, wie ich es unter die Bevölkerung bringe."
Das ökologische Narrativ ist noch nicht ausgefeilt
Das sei mehr, als nur eine Geschichte zu erzählen, sagt Müller. Es gehe auch darum, einen Zukunftsentwurf zu haben: "In was für einer Gesellschaft wollen wir leben und wo könnten Einzelne oder verschiedene Gruppen der Gesellschaft ihren Platz in dieser Zukunftsgeschichte haben." So eine Zukunftsgeschichte hätten unter den deutschen Parteien noch am ehesten die Grünen mit ihrem ökologischen Narrativ. Allerdings sei auch dieses "noch nicht wirklich ausgefeilt".
(gem)