Pascal Mercier: "Das Gewicht der Worte"
Hanser Verlag, München 2020
567 Seiten, 26 Euro
Sinnfragen im Angesicht des Todes
06:59 Minuten
Dem Titel seines Romans "Das Gewicht der Worte" macht Pascal Mercier alle Ehre: Nachdem der Held erfährt, dass er einen bösartigen Hirntumor hat, macht er sich ausschweifende Gedanken über Zeit, Sinn, Sterblichkeit. Dabei ist es eine Fehldiagnose.
An dem Erfolgschriftsteller Pascal Mercier - das literarische Pseudonym des 1944 in Bern geborenen Philosophieprofessors Peter Bieri – scheiden sich die Geister: Spätestens seit dem Weltbestseller "Nachtzug nach Lissabon" von 2004 fliegen ihm die Herzen des Lesepublikums zu. Kritiker hingegen sehen in seinen Geschichten, die durchweg von bildungsbürgerlichen, künstlerisch bewanderten, wenn nicht gar tätigen Protagonisten handeln, den Geist höheren Kitsches walten.
Ganz von der Hand zu weisen ist der Einwand nicht. Doch muss man einräumen, dass Mercier Verrisse erntete, die ihm möglicherweise erspart geblieben wären, wenn er seine Zweitkarriere nicht als renommierter Akademiker, sondern als Automechaniker gestartet hätte. Diesem würde der Einschlag ins leicht Sentimentale mutmaßlich eher verziehen.
Feinsinniger und polyglotter Held
Beirren lässt sich Mercier gleichwohl nicht. Auch in seinem neuen Roman tritt ein Held auf, der feinsinniger und polyglotter kaum vorstellbar ist. Simon Leyland, Sohn einer Deutschen und eines Engländers, Neffe eines Orientalistikprofessors, Witwer einer halb französischen, halb italienischen Auslandskorrespondentin und Erbin eines Verlages in Triest.
Dieser intellektuell souveräne Romanheld setzt sich schon als junger Mann in den Kopf, alle Sprachen des Mittelmeers zu erlernen, inklusive Maltesisch. Russisch kam noch dazu. Denn Leyland ist besessen von Worten. Sie sind sein Schlüssel zur Erfahrung der Welt; sie haben ihn zum Beruf des Übersetzers geführt. Nach dem Tod seiner Frau gab er ihn allerdings auf, um an ihrer Stelle den Verlag weiterzuführen.
Diagnose Hirntumor als medizinischer Irrtum
Der Beginn des Romans fällt mit dem eines neuen, buchstäblich zweiten Lebens von Leyland zusammen. Nach vielen Jahren in Triest kehrt er nach London zurück, um das von seinem Onkel geerbte Haus zu beziehen. Zwei Monate lang hielt sich Leyland für einen Todeskandidaten. Ein Arzt hatte einen Hirntumor bei ihm diagnostiziert.
Leyland verkaufte daraufhin sofort den Verlag, machte sich für den Abschied von seinen Kindern bereit, bis sich herausstellt, dass seine Röntgenbilder in der Klinik vertauscht wurden. Der medizinische Irrtum ist die schicksalhafte Kernpointe der Erzählung und zugleich der Ausgangspunkt für Ausflüge auf das weite Feld existentieller Themen: Zeit und Sterblichkeit, Sinn und Sehnsucht, Dinglichkeit und Benennung.
Mit Bildungsgütern überladen
Bei all diesen Reflexionen steht dem Erzähler allerdings sein Hang zur Wiederholung im Weg. Vieles, was er auf der Erzählebene ausbreitet, kehrt fast wortgleich in Leylands Briefen an seine verstorbene Ehefrau wieder. Und da der Übersetzer und Verleger Leyland beschließt, einen Roman zu schreiben, um seine eigene Stimme zu finden, fließen nun auch die Vorarbeiten zu diesem Prosawerk ein.
Ob ein Roman im bildungsbürgerlichen oder in einem sozial prekären Milieu spielt, sagt über sein Gelingen erst einmal nichts aus. Allerdings geht von intellektuellem Romanpersonal eher die Gefahr aus, eine Geschichte mit Bildungsgütern zu überladen. Diese Gefahr hat Pascal Mercier in seinem neuen Roman nicht ausreichend gebannt.