Pascale Hugues: "Mädchenschule. Porträt einer Frauengeneration"
Übersetzt aus dem Französischen von Lis Künzli
Rowohlt, Berlin 2021
304 Seiten, 20 Euro
Von klein, süß und bescheiden zu forsch und selbstbewusst
08:00 Minuten
Mit einem Poesiealbum fing alles an. Was ihre Schulfreundinnen 1968 dort hineinschrieben, stehe für das "furchtbare Frauenbild" jener Zeit, sagt Pascale Hugues. In zwölf Porträts beschreibt sie nun die Freundinnen von damals - und was aus ihnen geworden ist.
Zwölf Neunjährige in einer französischen Mädchenschule. Sie alle schreiben 1968 in das Poesiealbum von Pascale Hugues. In ihren kleinen Sinnsprüchen und Versen benutzen sie Worte wie "klein", "süß", "bescheiden". Begriffe wie Stolz, Mut und Ehrgeiz hingegen sucht man in den in Schulmädchenhandschrift verfassten Zeilen vergeblich. Denn solche Eigenschaften sind ja nur Männern vorbehalten.
Auf der Suche nach den Klassenkameradinnen
Und wie es oft passiert, wenn man alte Fotos oder Hefte aus der Kindheit wieder in den Händen hält: Die französische Journalistin Hugues, Jahrgang 1959 und aufgewachsen im Schatten des Straßburger Münsters, hat sich 50 Jahren später auf die Suche nach ihren damaligen Klassenkameradinnen gemacht. Sie hat lange Gespräche mit ihnen geführt, ihre Biografien ausgelotet und alles aufgeschrieben.
Das Ergebnis ist das Buch "Mädchenschule. Porträt einer Frauengeneration". Zwölf Lebensläufe werden darin beschrieben. Zum Beispiel der von Giacomina, die mit ihren Eltern und der großen Geschwisterschar aus Italien nach Frankreich gekommen war, in bitterer Armut lebte und heute erfolgreiche Unternehmerin ist.
"Forsch, füllig und sehr selbstbewusst", so sei Giacomina schon als Schülerin gewesen, erinnert sich Hugues. Und bezeichnenderweise war das Mädchen deshalb nicht besonders beliebt – weil sie lautstark einforderte, was ihr ebenso wie den Jungen zustand: Bildung, Erfolg, Reichtum.
"Wir waren eine konturlose Generation"
Die meisten Klassenkameradinnen stammten aus armen, oft bildungsfernen Familien, etliche mit Migrationshintergrund. Pascale Hugues dagegen fühlte sich vergleichsweise privilegiert: "Meine Eltern waren nicht sehr reich, aber sehr liberal. Meine Mutter hat für das Abtreibungsrecht gekämpft." Und ihre Eltern hätten nie einen Unterschied zwischen Jungs und Mädchen gemacht: "Ich konnte studieren wie mein Bruder." Andere Mädchen dagegen mussten die Schule mit 14 Jahren verlassen, um zu arbeiten.
Was alle Mädchen jedoch vereint, fasst Hugues so zusammen: "Wir waren eine konturlose Generation von Profiteuren: Wir sind einfach in die weichen Pantoffeln der 68er geschlüpft, ohne je selbst auf die Barrikaden gegangen zu sein."
Durch die Recherche Feministin geworden
Sie sei nie eine Feministin gewesen, betont die Autorin, die seit vielen Jahren als Korrespondentin für französische Medien in Berlin lebt. Doch das habe sich schlagartig geändert, als sie an dem Buch gearbeitet und sich mit den anderen Frauen über das Poesiealbum ausgetauscht habe:
"Wir haben das Album verdammt. Hinter all dem Niedlichen und Lieblichen steckt ein furchtbares Frauenbild. Es kommt ganz gewöhnlich und unschuldig daher. Aber eigentlich ist es ein Gift und man sollte es verbrennen."
Das fertige Buch hätten die anderen Frauen sehr positiv aufgenommen und es nach der Lektüre spontan als "unser Buch" bezeichnet. Speziell die selbstbewusste Giacomina sei sehr gerührt gewesen, nachdem sie das Kapitel über sich und ihre Familie gelesen habe, berichet Hugues: "Sie hat mir am Telefon gesagt: Du hast meinen Eltern eine Stimme gegeben."