"Ich bin ein Grenzgänger"
Der Jesuitenpater Klaus Mertes hat 2010 als Leiter des Berliner Canisius-Kollegs den Missbrauchsskandal an seiner Schule öffentlich gemacht. "Im Gespräch" erklärt er, warum er diese Entscheidung sehr schnell getroffen hat - und wie ihn Frankreich und Russland geprägt haben.
Der Katholizismus ist die Leitplanke seines Lebens. Der wurde dem Jesuitenpater und ehemaligen Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, Klaus Mertes, in die Wiege gelegt. Die Eltern hatten sich in einer katholischen Studentengemeinde kennengelernt. Als Sohn eines Diplomaten wuchs Mertes zunächst in Frankreich und Russland auf. Auch diese Erfahrung hat ihn tief geprägt. "Ich bin ein Grenzgänger", sagt er.
Mit 23 Jahren trat Klaus Mertes, damals studierte er gerade in Bonn, in den Orden der Jesuiten ein.
"Ich hatte jetzt keine Inspirationserlebnisse, sondern ich hatte eine schon in frühen Zeiten starke Sehnsucht nach einem, ich sage mal: radikal religiösen Leben. Es war weniger der Priesterberuf als solcher, der mich faszinierte, sondern die Frage nach der Gotteserfahrung. Also, wo ist denn der Ort, an dem Gott erfahren wird? Das war die Frage, die mich bewegt hat. Und ich hatte immer das Gefühl, ich muss mal bei dieser Frage richtig radikal werden, um zu sehen, ob ich eine Antwort darauf finde. Bis ich dann aber merkte, dass diese Sehnsucht danach so stark wurde, dass ich dann sagte: Jetzt muss ich es einfach probieren."
Dabei sei ihm die Entscheidung, in Zukunft zölibatär zu leben, zunächst nicht schwer gefallen.
"Ich hatte keinen ausgeprägten Kinderwunsch, aber es gibt viele Frauen oder einige Frauen, die ich ganz besonders geliebt habe, auch schon vor meinem Ordenseintritt. Und nach meinem Ordenseintritt auch so manch eine. Aber trotzdem war für mich die Entscheidung nicht schwer. Das ist vielleicht ein Widerspruch, aber ich habe sie mit einer Leichtigkeit getroffen. Im Rückblick denke ich mir manchmal, dass ich wirklich nicht ahnte, was ich tat, als ich mich so leicht dafür entschieden habe. Aber ich bin bis heute mit dieser Entscheidung im Frieden."
Auch wenn er auf Familie verzichtete, so hatte er doch bald viel mit Kindern und Jugendlichen zu tun. Der studierte Theologe und Altphilologe wurde ein begeisterter Lehrer und Pädagoge.
"Da war mir völlig klar, da muss ich jetzt reagieren"
Als Rektor des katholischen Canisius Kollegs in Berlin machte er 2010 den Missbrauchskandal an seiner Schule öffentlich und löste damit eine deutschlandweite Debatte aus. Für die Entscheidung, über die Vorfälle nicht zu schweigen, habe er gerade mal eine Stunde gebraucht.
"Das war völlig klar. Die Ersten, die das Schweigen gebrochen hatten waren drei Männer, die 1980 Abitur gemacht hatten am Canisius-Kolleg und die mir das erzählten. Und da wurde mir klar, wenn das stimmt, und es ist glaubwürdig, dann muss es hier allein schon bei dem einen ehemaligen Mitbruder mindestens 100 Opfer geben im Laufe von zehn Jahren - und da war es mir völlig klar: Da muss ich jetzt reagieren."
Sein großes Vorbild in allen Fragen der Pädagogik und auch in Bezug auf die Missbrauchsaffäre ist Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenorden.
"Der entscheidende Impuls bei Ignatius ist eben die Aufmerksamkeit für die eigenen Bedürfnisse und die eigenen Gefühle. Missbrauch und sexualisierte Gewalt hat ganz oft zu tun mit Menschen, die eben gar kein Gespür haben für die eigenen Bedürfnisse, sondern die sie ganz unreflektiert ausagieren. Und der einzige Weg, wie man an dieser Stelle weiter kommt, ist in die Selbstreflexion hineinzugehen. Und da ist Ignatius eben ein Lehrmeister, weil er ein Lehrmeister ist für die Reflektion der inneren Erfahrung."
Heute unterrichtet der inzwischen 63-Jährige an einem katholischen Internat im Schwarzwald. Das Thema Gewalt und Loyalität innerhalb bündischer Organisationen beschäftigt ihn weiter.