Erinnerungen an Patricia Highsmith

Nachmittage in Tegna

35:30 Minuten
Die Schriftstellerin Patricia Highsmith im Porträt (1991)
Ein Leben, vollkommen von der Metaphorik der eigenen Obsessionen beherrscht: die Schriftstellerin Patricia Highsmith (1991). © picture-alliance / akg-images
Von Thomas David |
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Die Tagebücher von Patricia Highsmith, insgesamt rund 8000 Seiten, lagerten im Wäscheschrank ihres Hauses in Tegna im Tessin. Jetzt ist eine Auswahl daraus erschienen. Ein Anlass für Thomas David, noch einmal nach Tegna zu fahren.
Es war ein Sonntag im September 2021, als der Autor dieses Radio-Features auf dem Friedhof in Tegna am Grab von Patricia Highsmith stand: vor einer in der Wand des Kolumbariums eingelassenen Grabplatte, hinter der sich die Urne mit Highsmiths Asche befindet. Auf einem schmalen Vorsprung lagen einige Kieselsteine, die Bewunderer hinterlassen hatten. In Tegna hatte er Patricia Highsmith im Oktober 1994, keine vier Monate vor ihrem Tod, besucht.

„Ich schreibe keine Krimis"

„In Buchläden standen meine Bücher in der Krimi-Ecke, was ein dämlicher Fehler ist“, hatte sie damals gesagt. „Wenn Leute nach einem Krimi suchen, erwarten sie etwas ganz Bestimmtes. Ich weiß, was ein Krimi ist, jeder weiß das. Aber ich schreibe keine Krimis: Suspense-Romane oder Thriller vielleicht, aber keine Krimis.“
In ihren Tagebüchern schreibt sie, dass sie solche Etiketten nicht ausstehen konnte. Highsmith fand, sie dienten nur der Bequemlichkeit der Buchhändler und Verleger: „Damit der Buchhändler weiß, wo er die Bücher einordnen muss.“
In ihren psychologischen Kriminalromanen interessierte Highsmith weniger die Aufklärung des Verbrechens als das Motiv, das jemanden zu einem Verbrechen bringt, und sie schuf ihre bekannteste Figur: Tom Ripley. Doch die vielfach ausgezeichnete Autorin schrieb auch andere Romane sowie Kurzgeschichten. Über ihr Schreiben heißt es in den Tagebüchern an einer Stelle:    

21. Juni 1941: Noch nie habe ich so sehr schreiben wollen wie jetzt. Ich habe eine solche Hölle hinter mir von Falschheit, Tränen, Spott, künstlichen Glücksgefühlen, Träumen, Begierden und Ernüchterung, von schönen Fassaden, die Hässliches verbargen, von hässlichen Fassaden, die Schönes verbargen, von Küssen und von trügerischen Umarmungen, von Rauschmitteln und Flucht. Also will ich schreiben. Muss ich schreiben.

Abweisend und bezaubernd

Die 1936 im sächsischen Freiberg geborene Künstlerin Ingeborg Lüscher lebte bereits in Tegna, als Patricia Highsmith im Dezember 1988 dorthin zog. Sie erzählt:
„Wenn man an das Erscheinungsbild von Pat in der Öffentlichkeit denkt, dann ist es eine finster dreinschauende Frau, den Kopf zwischen die Schultern geschoben, mit abweisendem, muffeligen Gesicht. Ich hatte sie zuerst einmal so gesehen, als sie aus einem Supermarkt kam, in den ich gerade reingehen wollte, und sofort wusste ich, das ist Patricia Highsmith. Und Gott sei Dank hab ich sie nicht angesprochen, denn ich hatte diesen völlig abweisenden Eindruck von ihr.“
Doch dann entstand eine Freundschaft und Highsmith entpuppte sich als das absolute Gegenteil. Ingeborg Lüscher erlebte die angeblich muffelige Highsmith als liebevoll und herzlich:
„Sie hat Spaß daran, einen zum Lachen zu bringen, sie macht Persiflagen von bekannten Personen oder sie tanzt einfach. Und sie ist eben nicht nur lustig, sondern sie ist auch so mitfühlend. Zum Beispiel hat sie unserer Tochter Una, als sie das Englischexamen machte, bei den Schulaufgaben geholfen. Ganz bezaubernd war sie, als meine Katze schwanger war.“

Keine zu große Nähe

Auch Bruno Sager berichtet von dem inneren Bild, das er von der Autorin hatte und davon, wie es sich änderte, als er ihr zum ersten Mal begegnete:
„Es war eine zierliche, kleine Frau, eine leise Frau. Ich hatte mir auch gedacht, eine Frau, die solche Bücher schreibt, die hat ein Organ, die spricht dann deutlich und laut – nein, das war fast ein Flüstern, mit dem sie mir begegnet ist.“
Der ehemalige Musikagent wohnte ab Juni 1994 für ein halbes Jahr in Highsmiths Haus, um der 73-jährigen, bereits schwerkranken Schriftstellerin bei der Arbeit im Haushalt zur Hand zu gehen und sie zu ihren medizinischen Behandlungen zu fahren:
„Am Anfang haben wir uns eigentlich nur angenähert. Ich hab gemerkt, zuerst einmal, was sie nicht will. Sie will keine zu große Nähe. Aber ich habe sofort gemerkt, dass sie natürlich froh ist für jede Handreichung, die man ihr gibt. Am zweiten Abend hab ich dann gekocht. Es ist dann dabei geblieben.“
Vielleicht sei sie einfach ein scheuer Mensch gewesen, meint Ingeborg Lüscher:
„Sie lebte ja ganz abgeschottet. Es gab eigentlich nichts, was ein Auslöser sein konnte für ihre ja wirklich finsteren und unheimlichen Geschichten. Und ich habe mich immer gefragt, wie ist es möglich, wie kommen die aus ihr heraus?“

„Wie ist jemand, der solche Sachen schreibt?“

Anna von Planta, seit Mitte der Achtzigerjahre Patricia Highsmiths Lektorin im Diogenes Verlag und Herausgeberin der im Oktober erschienenen "Tage- und Notizbücher" erinnert sich:
„Ich habe sie quasi zuerst durch ein Buch kennengelernt. Durch ein Buch, das viele Leute kennen, nämlich den "talentierten Mr. Ripley". Und ich habe mich damals gefragt, ich war ungefähr 18: Wie muss jemand sein, wie muss jemand leben, um so zu schreiben und über solche Sachen zu schreiben?"
In ihr Tagebuch schrieb Highsmith am 15. Mai 1950: „Ich bin begierig, so viele Leben zu leben, das ist es. Ich werde so viele verschiedene Personen sein, bevor ich sterbe. Und man muss allein sein, um sich so oft verändern zu können.“
Ingeborg Lüscher erzählt an diesem Nachmittag von einer Patricia Highsmith, die die Leserinnen und Leser ihrer Bücher so nicht kennen. Sie beschreibt das Haus, in dem die 1921 im texanischen Fort Worth geborene Schriftstellerin seit Dezember 1989 gelebt hatte: außen eine eher abweisende Fassade aus weißen Ziegelsteinen, innen eine Sitzgruppe, von der man durch eine große Fensterfront in den Garten schauen konnte.

Ein von Widersprüchen zerrissener Mensch

Als der Autor dieses Features sie vor 27 Jahren besuchte, ging es ihr bereits sehr schlecht. „Sie war am Sterben, als Sie sie trafen. Sie zu empfangen, war also besonders großzügig“, sagt Joan Schenkar, Highsmiths Biografin.
Highsmith saß zurückgelehnt, in einem weichen, mit weißem Stoff bezogenen Sessel. Ein Terrakottafußboden, wenige Möbel, manche davon von Highsmith selbst gezimmert. Eine Blockflöte, ein schwarzer Füllfederhalter.
Über den Stufen, die in den oberen Teil des Hauses führten, das von einer ihrer zahlreichen Geliebten gemalte Porträt der 23-jährigen Highsmith. Auf der schmalen Bank vor dem Kamin, unter der Fernbedienung des Fernsehers, lag die Videokassette mit Hitchcocks „Strangers on a Train“, der Verfilmung ihres 1950 erschienenen ersten Romans.
Sie sagte: „Ich glaube, das Schreiben fällt mir heute nicht mehr so leicht wie früher. Leider wird das Leben komplizierter, wenn man älter wird. Es ist herrlich, jung zu sein und ein einfaches Leben zu haben, ohne von allzu viel unbedingt Notwendigem gestört zu werden.“
Highsmith war nachsichtig und wohlwollend, aber ihre Antworten waren wortkarg und ausweichend. Sie hielt zurück, was ihre Notiz- und Tagebücher auf unbefangene Weise enthüllen. Darin begegnet einem ein in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und inneren Zerrissenheit sichtbarer Mensch.

Chaotischer Konflikt unversöhnlicher Zustände

Joan Schenkar erzählt: „Sie pflegte zu sagen, dass ihr Blut 'sich schlafen gelegt' habe. Vermutlich konnte nur Patricia Highsmith, deren Leben vollkommen von der Metaphorik ihrer Obsessionen beherrscht wurde, an zwei rivalisierenden Krankheiten sterben. Durch die Behandlung der einen Krankheit verschlimmerte sich die andere. Highsmith starb also, wie sie gelebt hatte – in jenem chaotischen Konflikt unversöhnlicher, miteinander nie in Einklang zu bringender Zustände, aus dem ihr unvergleichliches Werk hervorgegangen ist.“
Im Tagebuch hatte Highsmith bereits am 28. Januar 1959 notiert:

Mein Leben ist absolut aussichtslos. Da hilft es auch nichts, genug zu schlafen, sich an eine Zeiteinteilung zu halten, täglich eine 'befriedigende' Menge Arbeit zu schaffen und sich abends dazu zu gratulieren. Mein Leben ist aussichtslos. Es hängt an einem seidenen Faden.

Ingeborg Lüscher sagt: „Und dann war sie gestorben und ich war noch so im Halbschlaf und dachte an sie und sagte zu ihr, aber auf Deutsch: 'Pat, hast du dir das so vorgestellt nach dem Tod?' Und dann antwortet sie im Deutschen, in meiner Vorstellung: 'Nicht unbedingt.' Das wäre eine Formulierung, die sie absolut gebraucht hätte, auch weil sie diese Feinheit, dieses 'Nicht unbedingt' natürlich verstanden hat. Nicht unbedingt.“
Sprecher*innen: Cristin König, Manuel Harder und Birgit Paul
Regie: Klingsporn
Ton: Martin Eichberg
Redaktion: Dorothea Westphal

Patricia Highsmith: „Tage- und Notizbücher“
herausgegeben von Anna von Planta
aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Melanie Walz, pociao, Anna-Nina Kroll, Marion Hertle und Peter Torberg
Diogenes Verlag, Zürich 2021
1376 Seiten, 32 Euro

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