Patrícia Melo: Der Nachbar
Aus dem Brasilianischen von Barbara Mesquita
Tropen Verlag, 2018
159 Seiten, 18 Euro
Von Lärm und anderen Stichwaffen
Mord als Therapie: Die brasilianische Schriftstellerin Patrícia Melo erzählt in ihrem herrlich sarkastischen Kriminalroman "Der Nachbar" von einem überforderten Biologielehrer, der erst im Gefängnis zu sich selbst findet.
Für jeden geräuschempfindlichen Menschen ist Patrícia Melos fieser Kriminalroman "Der Nachbar" regelrecht eine Einladung zur identifikatorischen Lesart. "Ich habe weder das absolute Gehör mancher Musiker noch sind meine Ohren so sensibel wie die von Hunden. Aber ich habe nie begriffen, warum Lärm nicht zu den wirkungsvollen Stichwaffen gezählt wird", bekennt der 54-jährige Icherzähler gleich im ersten Satz.
Es ist nämlich der Lärm des eine Etage über ihn eingezogenen Ygor Silvas, der den frustrierten Biologielehrer plagt. Lachen mitten in der Nacht. "Oder Beischlafgestöhne. Stimmen. Gepolter. Oft rauschten dort oben die Elektrogeräte. Der Fernseher." Dazu das "Fußgetrappel, unbeschreiblich. Es ließ mir nicht eine Sekunde Ruhe. Klack, klack, klack durch den Flur, hin und her, her und hin" – an Schlaf ist da nicht mehr zu denken.
Seitenhieb auf brasilianische Gesellschaft
Auf Beschwerden reagiert Silva mit Hohn und Gelächter. Also liegt der Erzähler im Bett und überlegt, wie er seinen Nachbarn umbringen kann. Und das passiert dann, wenn auch eher versehentlich: Der Nachbar wird getötet, die Leiche zerteilt und versteckt.
Noch nicht einmal 160 Seiten benötigt Patrícia Melo für dieses makabre und gemeine Szenario, das hinreißend komisch und mit allerhand Seitenhieben auf die brasilianische Gesellschaft gespickt ist. Ihr Erzähler ist ein vom Leben überforderter Mann: Seine Schülerinnen und Schüler haben keinerlei Respekt mehr vor ihm; das Schulsystem treibt den Lehrer in die Armut; seine Stieftochter ist mit einer Frau zusammen; seine Ehefrau sucht plötzlich emotionale und sexuelle Erfüllung ausgerechtet bei einem jüngeren Mann.
Und dann gibt es auch noch die Bakterien, für die er eine ungesunde Faszination hat. Und mit den meisten dieser Überforderungen ist der Erzähler nicht allein - deshalb funktioniert diese sarkastische Abrechnung nicht nur vor dem Hintergrund der brasilianischen Gesellschaft.
Im Gefängnis herrscht Ordnung
Einen Ausweg bieten ihm nun Mord und Wahnsinn. Sie entbinden ihn von der Realität und der Suche nach einem Sinn oder nur Weg im eigenen Leben, genau wie das Gefängnis: "Denn im Grunde genommen ist das Leben im Gefängnis ebenfalls Leben. Nicht mehr und nicht weniger."
Ein geregelter Tagesablauf, durch Bestechung verschaffte Privilegien, die ihm das Gefühl geben, wichtig zu sein, und dazu kommen die Frauen, die Männern schreiben, die im Gefängnis sitzen. Eigentlich eine clevere Sache, wie Zellengenosse Doni dem Erzähler erklärt, immerhin sitzt ein Großteil der männlichen Bevölkerung im Gefängnis.
"Wenn es in dieser Geschwindigkeit weitergeht, haben wir in Brasilien bald mehr Männer im Knast als in Freiheit. Was sollen die Frauen da tun? Das, was Rúbia schlauerweise gerade macht: lernen, uns zu mögen." Denn irgendwann werden ehrenwerte Männer nur noch etwas für perverse Frauen sein.
"Der Nachbar" ist ein herrlich böser, triefend sarkastischer und hochkomischer Kriminalroman – und eine höchst effiziente Abrechnung mit der gegenwärtigen Gesellschaft.