Patrícia Melo: "Gestapelte Frauen"
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Unionsverlag, Zürich 2021
50 Seiten. 22 Euro
Femizide an paradiesischem Ort
06:41 Minuten
Von einem "schichtübergreifenden Verbrechen" erzählt die Brasilianierin Patrícia Melo in ihrem neuen sozialkritischen Roman. Es geht um die in ihrem Land weitverbreiteten Femizide: Tötungen an Frauen. Und das mitten im bedrückend-betörenden Amazonasgebiet.
"Gestapelte Frauen", dieses Bild kommt der Ich-Erzählerin des gleichnamigen Romans in den Sinn, wenn sie an die unzähligen Femizide in Brasilien denkt. Im Durchschnitt werden in dem südamerikanischen Riesenland jeden Tag elf Frauen getötet.
Die Protagonistin, eine junge Juristin aus der Metropole São Paulo, hat selbst als Kind erlebt, wie ihr Vater ihre Mutter ermordet hat. Dieses traumatische Erlebnis hat sie allerdings ziemlich verdrängt, bis eines Tages ihr Freund sie in einem Anfall von Eifersucht ohrfeigt. Wie der Zufall es will: Wenige Wochen später wird die Anwältin von ihrer Kanzlei in den Bundesstaat Acre geschickt, ganz im Westen Brasiliens, wo sie als Beobachterin an Gerichtsverhandlungen gegen Frauenmörder teilnehmen soll.
Nah an der traurigen Realität
Patrícia Melo ist in Brasilien eine der bekanntesten literarischen Stimmen der Gegenwart. Manche ordnen sie als Krimi-Autorin ein – sie selbst sagt lieber, dass sie über die Gewalt in der brasilianischen Gesellschaft schreibt.
In "Gestapelte Frauen" setzt sich Melo nun zum ersten Mal mit dem in ihrer Heimat allgegenwärtigen Problem der Gewalt und Morde an Frauen auseinander. Die Fiktion bewegt sich nah an der traurigen Realität. Die Opfer sind Ehefrauen, Freundinnen oder Töchter – sie werden vergewaltigt, erschossen, erschlagen, verstümmelt.
Eingestreut in den Roman sind immer wieder Schnipsel, die auf Zeitungsmeldungen oder Obduktionsberichten basieren. Rayane Barros de Castro, sechzehn, wurde erschossen. Bevor der Mörder sie tötete, schickte er ihr per WhatsApp eine Nachricht: "Ich werde mein Leben leben, aber du deins nicht." Die Opfer und die Täter stammen aus allen Gesellschafts- und Bildungsschichten, sind weiß oder schwarz oder indigen.
Kein Täter landet im Gefängnis
Im zum Amazonasgebiet gehörenden Bundesstaat Acre scheinen Machismo, Frauenhass und auch Rassismus besonders ausgeprägt. Ein indigenes Mädchen ist vergewaltigt, grausam misshandelt und getötet worden – doch keiner der drei Täter, die der lokalen weißen Elite angehören, landet im Gefängnis. Patrícia Melos Romanheldinnen, zu denen auch eine resolute Staatsanwältin und eine unerschrockene Journalistin gehören, werden wegen ihrer Entschlossenheit und Unabhängigkeit angefeindet, beleidigt und schließlich bestraft.
"Gestapelte Frauen" spielt in einem bedrückenden, aber zugleich paradiesischen Umfeld. Melo beschreibt den Amazonasregenwald als einen intensiv sinnlichen Ort. Ihr Roman ist auch eine Liebeserklärung an die Welt der amazonischen Ureinwohner.
Die Ich-Erzählerin besucht indigene Gemeinschaften und taucht ein in ihre Rituale. Dabei trinkt sie Ayahuasca, einen psychedelisch wirkenden Pflanzensud. Er versetzt sie in eine Traumwelt, in der die Protagonistin zu einer Gruppe von Kriegerinnen stößt – in Anspielung auf den legendären Stamm indianischer Amazonen, der dem Amazonasgebiet seinen Namen gegeben habt.
Auftritt der Rächerinnen
Diese Fantasiewesen werden zu Rächerinnen der Femizide, die die männlichen Peiniger genüsslich erniedrigen und umbringen – und das in einer ausgelassenen-frivolen Atmosphäre. Das wirkt teilweise befremdlich, aber es ist klar, was die Autorin wollte: Eine Ebene schaffen, in der die Frauen die Opferrolle verlassen und selbst Gerechtigkeit schaffen.
"Gestapelte Frauen" ist teilweise plakativ, nicht frei von Klischees. Der Stil ist umgangssprachlich, manchmal derb – das macht den Roman unmittelbar. Sein großer Verdienst ist zweifellos, eines der schmerzlichsten Probleme der brasilianischen Gesellschaft für ein breites Publikum eindringlich aufbereitet zu haben.