Patrick Marnham: Schlangentanz. Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters
Übersetzt aus dem Englischen von Astrid Becker und Anne Emmert
Berenberg Verlag, Berlin 2015
376 Seiten, 25 Euro
Die Tragik des Atomzeitalters
Eine Mischung aus Geschichtsbuch und Reisebericht über das Atomzeitalter hat der englische Journalist Patrick Marnham verfasst. "Schlangentanz" ist genauso ausufernd wie lesenswert, beginnt im Belgien des späten 19. Jahrhunderts und endet in Fukushima.
Marnhams Buch beginnt mit Joseph Conrad Reise 1890 von Brüssel aus in den Kongo, die damalige Privatkolonie des belgischen Königs Leopold II., wo er Zeuge der Versklavung der Kautschukarbeiter wurde. Seine Erlebnisse inspirierten ihn zu der Erzählung "Herz der Finsternis", in der er einen düster-pessimistischen Blick auf unsere Zivilisation wirft. Aus dem Kongo stammte auch das Uran für die ersten Atombomben, und es wurde unter ähnlich brutalen Bedingungen gefördert. Gebaut wurden die Bomben in New Mexico unter der Leitung von Robert Oppenheimer. New Mexico ist zudem die Heimat der Hopi-Indianer, deren Schlangentanz vom Kunsthistoriker Aby Warburg beschrieben wurde: Ein archaisches Ritual, um den Blitz zu kontrollieren. Oppenheimer kontrollierte von Menschen gemachte Blitze, die Atomenergie. Und Marnhams Reise endet im Jetzt des Atomzeitalters in Japan, in Hiroshima Nagasaki und Fukushima.
Das alles ist mitunter sehr nebulös und verwirrend, auch weil Patrick Marnham nirgendwo erläutert, warum ausgerechnet diese drei Männer seine Protagonisten sind – nur bei Oppenheimer ist es selbsterklärend. Aber der englische Journalist schreibt so wunderbar, dass man ihm dies verzeiht. So skizziert er die Lebenswege seiner Protagonisten, ihr Denken und Handeln, er referiert Historisches wie die Geschichte der Indianer in Kalifornien oder die der Atomphysik und beschreibt akribisch den Weg von der Entscheidung zum Bau der Atombombe bis zu ihrem Einsatz. Mitunter zu genau, zu detailverliebt.
Atombomben-Ohrringe als Souvenir
Doch man folgt ihm immer wieder gerne bei seiner Reise, einer Spurensuche in der Ferne. Liest amüsiert, wenn er von den Absurditäten seiner Einreise in den Kongo berichtet, und ängstigt sich mit ihm, wenn er von den Gefahren des dortigen Luftverkehrs erzählt. Marnham schafft mit wenigen Bildern eine verzweifelt-furchtsame Stimmung beim Besuch eines Atomreaktors in Kinshasa, aus dem Uranbrennstäbe einfach verschwanden. Fassungslos liest man von dem Souvenirladen des Nationalen Atom-Museums der USA in dem Silberohrringe verkauft werden, maßstabgetreue Nachbauten der Bomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten.
Patrick Marnham erzählt wenig stringent, er baut keine flüssigen Argumentationsketten auf, denen er folgt, stattdessen schlingert und assoziiert er. Folgt man ihm aber, seinen schweifenden Gedanken über Genie und Wahnsinn, Macht und Gewalt, dann lernt man nicht nur vieles über die Geschichte des Atomzeitalters. Man spürt auch deren Tragik. Und versteht, warum für die Menschheit im "Herz der Finsternis" angekommen ist.