Patrick Modiano: "Unsichtbare Tinte"
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München 2021
144 Seiten, 19 Euro
Dunkle Stellen der Vergangenheit
04:57 Minuten
Eine junge Frau verschwindet spurlos, ein Privatermittler wird auf den Fall angesetzt. In Patrick Modianos neuem Roman geht es um Vergangenheitsbeschwörung. Die "Unsichtbare Tinte", mit der das Leben geschrieben ist, soll wieder erkennbar werden.
Patrick Modianos Literatur ist ein Erinnerungsprojekt. Nicht ohne Grund wird er manchmal als Marcel Proust der heutigen Zeit bezeichnet. Sein neuer Roman führt zurück in die 60er- und 70er-Jahre, als der 1945 geborene Schriftsteller ein junger Mann war.
Ein elegantes Cabriolet amerikanischer Bauart, das sich ein Schulfreund des Icherzählers manchmal heimlich ausborgte, um am Lac d’Annecy in den französischen Alpen südlich von Genf ein paar Runden zu drehen, spielt bei diesem Eintauchen in die Vergangenheit eine Rolle. In jener Bergregion hat Patrick Modiano einen Teil seiner Schulzeit in einem strengen katholischen Internat verbracht.
Hauptschauplatz des Krimis ist Paris
Wie in nahezu allen Romanen Modianos ist allerdings Paris der Hauptschauplatz. Auch in "Unsichtbare Tinte" durchstreift der Icherzähler die Geografie der französischen Hauptstadt. Die durch Wohnadressen, Cafés, Metro-Stationen, Postämter Straßennamen und die Nummerierung der Arrondissements gegliederte Metropole ist das Gerüst, an dem die Erzählung und der Bewusstseinsstrom des Protagonisten entlang gleiten.
"Unsichtbare Tinte" versucht, die dunklen Stellen in der Vergangenheit zu erhellen. Im Auftrag einer Detektei soll ein junger Mann, das urplötzliche und spurlose Verschwinden einer jungen Frau, Noëlle Lefebvre, recherchieren.
"Ich heiße Eyben. Jean Eyben" – so stellt sich dieser Privatermittler vor. Ob der feinsinnige Nobelpreisträger damit eine schmunzelnde Reminiszenz an den Geheimagenten James Bond verbinden wollte, sei dahingestellt.
Bild der 60er-Jahre entsteht
Aber auch dieser 29. Roman von Patrick Modiano ist eben ein Kriminalroman."Unsichtbare Tinte" heißt im französischen Original "Encre sympathique", was wörtlich übersetzt "sympathetische Tinte" oder "Geheimtinte" bedeutet. Die Art von Schrift, die schon von den alten Römern verwendet wurde, um verborgene Botschaften zu übermitteln.
Vor dem digitalen Zeitalter bedienten sich Geheimdienste dieser chemischen Methode. Um die wahre Botschaft sichtbar zu machen, muss nachträglich eine bestimmte Substanz aufgetragen oder das Blatt gegen ein spezielles Licht gehalten werden.
Bei Modiano ist diese Substanz die unwillkürliche Erinnerung. Namen, Orte, Gegenstände, Tagebuchaufzeichnungen bilden die verstreuten Teile eines Puzzles, aus dem sich eine Persönlichkeit zusammensetzt. Dabei entsteht das Bild einer Epoche, die von den 60er-Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart des 75jährigen Schriftstellers reicht.
Sprachliches Meisterwerk
Es heißt, Patrick Modiano schreibe immer wieder denselben Roman - das mögen manche als Gleichförmigkeit verstehen. In Wahrheit ist es ein außerordentliches Qualitätsmerkmal. Patrick Modianos Bücher handeln nicht von diesem oder jenem Ereignis der Aktualität oder Vergangenheit. Sein Werk ist die ewig unabgeschlossene Suche nach der abgelaufenen Lebenszeit - eine kriminalistische, tiefenschürfende Recherche in der eigenen Biografie.
Überraschenderweise hat die ansonsten so herausragende Übersetzerin Elisabeth Edl dieses Buch nicht durchgängig in der gewohnten Geschmeidigkeit übersetzt. Gelegentlich schimmern Konstruktionen des Originals im Deutschen durch. Der stilistischen Eleganz Modianos kann das aber nichts anhaben. "Unsichtbare Tinte" ist auch sprachlich ein Meisterwerk, das mit suggestiver Kraft in einen spannungsreich dahintreibenden Erzählfluss hineinzieht.