Eine Produktion von Deutschlandfunk/Deutschlandfunk Kultur 2021. Das Skript zur Sendung finden Sie hier.
Zum 75. Geburtstag von Patti Smith
„Ich versuche, so viel wie möglich von mir zu offenbaren. Ich rede über kontroverse Themen, die gesellschaftlich noch immer tabuisiert sind", sagt Patti Smith. Hier auf einem Konzert in Rom im Oktober 2021. © imago images / ZUMA Wire / Marilla Sicilia
Irdische Transzendenz
Als 'Godmother of Punk' ist Patti Smith in die Geschichte des Rock ’n’ Roll eingegangen, mit provokanten Auftritten wurde sie bekannt. Heute sieht sich die Sängerin vor allem als Autorin. Auf der Bühne strahlt sie immer noch jugendliche Energie aus.
Patti Smith entstammt einer sechsköpfigen Familie aus der Arbeiterschicht, in der das Geld oft knapp war. Ihr Vater Grant war Maschinenschlosser in einer Fabrik, ihre Mutter Beverly Kellnerin. Geboren wurde sie als Patricia Lee Smith am 30. Dezember 1946 in Chicago. Der Vater hörte zu Hause gern Jazzmusik von Duke Ellington oder Miles Davis. Grant Smith war Atheist, kannte sich aber sehr gut in der Bibel aus.
Ihn faszinierten Science-Fiction-Geschichten und Ufos – ein Interesse, das auch seine älteste Tochter später teilen sollte. Ihre Mutter Beverly gehörte den Zeugen Jehovas an. Beten lernte sie von ihrer Mutter, als sie drei Jahre alt war. Die frühe religiöse Erziehung führte bei ihr nicht zu einer lebenslangen Bindung an rigide Glaubensvorschriften einer Religion. Gebete seien aber bis heute Teil ihres Alltags, erklärt Patti Smith in einem Interview:
„Meine Mutter hat mir beigebracht, dass es Gott gibt. Und, dass man ihn zwar nicht sehen, aber trotzdem mit ihm kommunizieren kann – durch Gebet oder Nachdenken. Also wurde die Möglichkeit, über Raum und Zeit hinweg zu kommunizieren, schon sehr früh Teil meines Glaubens. Im Laufe der Zeit habe ich dann Menschen verloren, aber ich kann immer noch mit ihnen kommunizieren.“
Oper und Rock ’n’ Roll
Durch den Musiklehrer an ihrer Schule lernte sie als Kind Opernmusik kennen und lieben, vor allem Puccini. Maria Callas' Gesang rührte sie zu Tränen, obwohl sie nicht verstand, worum es da ging. Die Idee, selber einmal Schriftstellerin zu werden, kam der etwa 11-jährigen, nachdem sie “Betty und ihre vier Schwestern“ von Louisa May Alcott gelesen hatte. Die erste Rock 'n' Roll Offenbarung für Patti Smith war die Musik von Little Richard. Sie traf sie ganz direkt in ihrer Seele, und unter der Gürtellinie.
1964 beginnt sie eine Ausbildung zur Kunstlehrerin. In ihren zwei College-Jahren informierte sie sie sich so intensiv wie möglich über Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts. Ein Professor ermutigte sie, sich mit Künstlerinnen und Künstlern zu beschäftigten, die als Außenseiter galten. Doch gleichgesinnte Freunde hatte sie damals nicht, auch keine Aussichten auf einen Job. Also machte sie sich im Sommer 1967 auf den Weg nach New York.
Kunsthauptstadt New York
Patti Smith fand schnell Arbeit in einem Buchladen, und suchte zunächst ihren künstlerischen Weg als Zeichnerin zu finden. Aus kurzen Texten, die sie um ihre Zeichnungen kritzelte, wurden schließlich Gedichte. Das St. Mark's Poetry Project entstand im Jahr 1966. Es wurde bald zu einem hoch angesehenen Forum für Lesungen aufstrebender und etablierter Dichterinnen und Dichter und existiert bis heute.
Dank intensiver Mund-zu-Mund Propaganda kamen zu Smith ersten Auftritt im Februar 1971 250 Menschen in die Kirche. Deshalb wollte sie den Abend etwas aufmischen und einige Texte zusammen mit Lenny Kaye an der E-Gitarre zelebrieren. Sie spielt bis heute mit ihm zusammen.
Wie eine Fügung mutet rückblickend ihre Begegnung mit Robert Mapplethorpe kurz nach ihrer Ankunft in New York an. Die beiden wurden vorübergehend ein Paar, Mapplethorpe wurde ein weltbekannter Fotograf. Von ihm ist u.a. das ikonisch gewordene Cover ihrer ersten LP “Horses“ – ein Schwarzweiß-Foto von Patti Smith in weißem Herrenhemd, mit über die Schulter geworfenem Blazer, ihr Blick direkt in die Kamera gerichtet, gleichzeitig stolz, unnahbar, androgyn und attraktiv.
Abgesehen von literarischen Einflüssen, die Autoren der Beat-Generation auf ihr eigenes Werk ausübten, war Patti Smith auch mit vielen von ihnen befreundet, vor allem mit William Burroughs und Allen Ginsberg.
Charakteristisch für die eklektizistischen Interessen Patti Smiths war immer die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von sogenannter Hochkultur und populärer Kultur. Es ist für sie bis heute kein Problem, melodietrunkene Opernarien zu genießen und selber auf der Bühne zehn Minuten lang einen Song mit immer denselben drei Akkorden zu zelebrieren.
Genauso verträgt sich bei ihr die Inspiration durch französische und englische Dichter des 19. Jahrhunderts mit dem Vorbild der rhetorischen Verve eines US-amerikanischen Talkshow-Moderators aus dem 20. Jahrhundert, Johnny Carson, wie sie berichtet.
„Als ich jünger war, wollte ich keine Rockband haben, aber ich habe mir ausgemalt, den Job von Johnny Carson zu übernehmen. So eine Talkshow wollte ich haben, Geschichten erzählen und Witze reißen. Was ich aus seinen Shows gelernt habe, ist die Fähigkeit zu improvisieren und mich mit Leuten herumzustreiten.
Als ich anfing aufzutreten, war ich nicht sehr beliebt. Manche schrien: ‚Kämm' Dich mal, zurück an den Küchenherd.‘ Ich habe es damals immer geschafft, ihnen mit einer witzigen Bemerkung den Mund zu stopfen, meistens waren es ja Typen. Wenn die glauben, sie seien so cool – dann zieh Dich da kurz raus und brat ihnen dann eins über und sei cooler.“
Schneller Ruhm
Ein erstes Mal jenseits von New York wahrgenommen wurde Patti Smith in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre. Innerhalb von nur vier Jahren, zwischen 1975 und 1979 erlebten sie und ihre Band eine rasante Entwicklung. Anfangs spielten sie nur in kleinen New Yorker Clubs, ihr vorerst letztes großes Konzert fand am 10. September 1979 in Florenz vor 70.000 Menschen statt.
Keimzelle der Band war das Duo, das im Februar 1971 in der St. Mark's Church in New York auftrat. An die Gründung einer gemeinsamen Rockband dachte keiner von ihnen. Die damals 24-Jährige trug eigene Gedichte vor, bei einigen ließ sie sich vom gleichaltrigen Musikjournalisten und Gitarristen Lenny Kaye begleiten.
Eine Woche nach einem Angebot von Label-Chef Clive Davis unterschrieb Patti Smith im Mai 1975 den Plattenvertrag bei dessen neuer Firma Arista Records. Davis ließ Smith künstlerisch freie Hand, selbst über das Design der Plattenhülle konnte sie entscheiden. Es ging in dem Vertrag um sieben Alben und eine Summe von 750.000 Dollar. Er berichtet, die damals 28-jährige Patti Smith habe Labelboss Davis gesagt: “Ich muss mich beeilen. Ich habe nicht die Kraft, all zu lang zu warten, um ein Star zu werden.“
Der so gängige wie plakative Titel “Godmother of Punk“ trifft auf Patti Smith bestenfalls teilweise zu. Smith und Kaye empfanden eine Art Mission, Rockmusik wiederzubeleben und erneut zu einem rebellischen Ausdrucksmittel für Leute ohne viel Geld und andere Privilegien zu machen. Musikalisch gab es kaum Gemeinsamkeiten mit dem schnellen drei Akkord-Rock der Ramones oder von Bands aus England, die ab 1976 mit dem Begriff “Punk Rock“ belegt wurden.
Auch Patti Smith Gesang war beileibe nicht immer rau und ungeschliffen, sie konnte ebenso sauber und zart singen. Einzig die rotzige Attitude, die Patti Smith manchmal an den Tag legte, war vergleichbar mit den Provokationen der englischen Punkbands. Nicht zuletzt stellte sie aber mit ihrem androgynen Erscheinungsbild und selbstbewussten Auftreten traditionelle Schönheitsideale und Rollenmuster infrage. Sie erklärt:
„Ich versuche, so viel wie möglich von mir zu offenbaren. Ich rede über kontroverse Themen, die gesellschaftlich noch immer tabuisiert sind. So wie Wilhelm Reich es tat. Ich rede über Masturbation und so etwas –nicht um die Leute zu schockieren, sondern weil ich glaube, dass sie davon für ihre eigene persönliche Entwicklung profitieren können. Nur Anstoß zu erregen finde ich langweilig. ´Jesus starb für die Sünden von irgendjemand, aber nicht für meine`, sage ich nicht, um die christliche Kirche zu empören. Wir bestimmen selber über unser Leben.“
Rückzug ins Private
Zwei weitere LPs und mehrere Tourneen folgten in den Jahren 1978 und 1979. Die in Zusammenarbeit mit Bruce Springsteen entstandene Komposition “Because The Night“ wurde 1978 zum größten Hit der Patti Smith Group, ein Liebeslied, inspiriert von ihrem zukünftigen Ehemann Fred “Sonic“ Smith, ehemals einer der Gitarristen der MC5 aus Detroit. Um nicht länger in einer Fernbeziehung mit ihm über Telefon zu leben, zog sie Ende 1978 nach Detroit.
Allein die räumliche Entfernung zum Rest der Band in New York erschwerte die Zusammenarbeit. 1979 löste sie die Band auf. Fred und Patti Smith heirateten am 1. März 1980 in Detroit. Da sie sparsam lebten, waren sie finanziell unabhängig und konnten von gemeinsamen Einkünften aus den Tagen im Musikgeschäft leben. 1982 wurde ihr Sohn Jackson geboren, 1987 ihre Tochter Jesse.
Etwas später trafen Patti Smith harte Schicksalsschläge. Ihr Ehemann Fred starb 1994 im Alter von 46 Jahren, wenige Wochen später ihr Bruder Todd.
Ihr wird klar, dass sie wieder auf Tournee gehen muss, um sich und ihre Kinder zu ernähren. Sie war sich nicht sicher, ob sich die Menschen nach 16 Jahren noch an sie erinnern würden. Bob Dylan machte ihr Mut und ging mit ihr auf eine zweiwöchige Tour an der Ostküste. In der Band, die sie dann für Plattenaufnahmen und Tourneen zusammenstellte, spielten zwei Musiker aus ihrer ersten Band: Lenny Kaye und Jay Dee Daugherty. Bass spielte von nun an Tony Shanahan. Diese drei sind seither ununterbrochen dabei. Ihr erstes neues Album erschien 1996.
Musikerin und Schriftstellerin
Nach ihrer Rückkehr als Musikerin 1995 hat Patti Smith acht neue Alben veröffentlicht. Außerdem ist sie an mehreren Produktionen beteiligt gewesen, die ihre Text-Rezitationen mit abstrakten Klanglandschaften kombinieren, z.B. mit dem Soundwalk Collective. Seit sie 2010 den National Book Award für “Just Kids“, ihr erstes Buch mit Memoiren, bekommen hat, wird sie von einer breiteren Öffentlichkeit auch als Schriftstellerin wahrgenommen.
„Wenn Du ein Gedicht oder ein Buch schreibst, hast Du zuerst einmal eine ganz grundlegende Verpflichtung gegenüber dem Werk selber. An das Lesepublikum zu denken, ist dabei Luxus. Zunächst musst Du Dich ganz auf den Text und die dazugehörige Welt einlassen. Aber wenn Du einen Song schreibst oder ihn live singst, entsteht eine andere Verantwortung. Bei einem Songtext denke ich nicht nur an den Inhalt, sondern auch daran, wie die Menschen ihn wahrnehmen, wie ich ihn so vortragen kann, dass er ihnen etwas bedeutet.
Wenn Du einen Songtext schreibst, bist Du nicht so abgeschottet wie beim Verfassen eines Gedichtes oder Buches. Bei Auftritten wird es sogar noch direkter. Ich opfere dann oft Klarheit und Schönheit für unmittelbare Kommunikation, manchmal damit etwas Komisches entsteht, oder ein emotionaleres Erlebnis. Denn das Wichtigste bei einer Performance ist es, im Kontakt mit dem Publikum zu bleiben.“
Musik, Texte und Image von Patti Smith und die Publicity um ihre Person konnten eine Zeit lang sehr polarisieren. Neben Lobeshymnen gab es besonders in den 70er-Jahren Verrisse, für die das Wort “gnadenlos“ einmal erfunden wurde. Widersprüchliche Eindrücke und Emotionen kann Patti Smith aber immer noch auslösen.
Nach einer pandemiebedingten Pause ist Patti Smith seit dem Sommer 2021 wieder auf Konzertbühnen in den USA und Europa zu erleben. Auch mit kurz in ihrem 75. Lebensjahr sind Charisma und Bühnenpräsenz sind immer noch intakt. Für das Jahr 2022 sind u.a. mehrere Konzerte in Deutschland geplant. Ihr augenblickliches Lebensgefühl beschreibt sie so:
„Im Rückblick auf mein Leben, glaube ich, dass ich so ungefähr mit elf Jahren ich selber wurde. Ich glaube wirklich, dass ich damals wusste, wer ich war. Danach habe ich mich auf verschiedene Art weiterentwickelt, aber heutzutage habe ich direkten Kontakt zu der 11-jährigen. Ich fühle noch immer dasselbe Staunen über so viele Dinge – wie Peter Pan. Den gleichen Enthusiasmus, dasselbe Verlangen, etwas zu erforschen. Solange ich in der Lage bin, mir das zu bewahren, kann ich jedenfalls weiter eine 11-jährige bleiben, die bald 75 Jahre alt wird.“