Patti Smith: "M Train"

Umweht von Einsamkeit und Melancholie

Patti Smith bei einem ihrer Auftritte
Die Musikerin Patti Smith © picture alliance / dpa
Von Olga Hochweis |
Ein Requiem für die vielen, die Patti Smith überlebt hat, ist der zweite Teil ihrer Biografie geworden. Die Sätze in "M Train" sind genauso unprätentiös und wirkungsvoll wie ihre Songtexte - und geben Einblick in die schöpferische Welt-Wahrnehmung der Musikerin.
Anfang der 70er-Jahre, als Patti Smith vor allem aufs Schreiben fokussiert war, hatte sie eine Affäre mit dem Dramatiker Sam Shepard. Er verließ sie kurz nach einem gemeinsam verfassten Theaterstück namens "Cowboy mouth". In Smiths Erinnerungen "M Train" kehrt Sam Shepard zurück als "gutausehender Cowboy" – eine Traumfigur und wiederkehrendes fiktives Gegenüber beim Nachdenken über den Schriftsteller und das Schreiben, dieser, Zitat: "vergeblichen Hoffnung auf ein Quäntchen Selbsterkenntnis".
Zitatorin:"Sie durchziehen diese Seiten oft ohne eine Erklärung: Schriftsteller und ihr Schaffen. Schriftsteller und ihre Bücher. Ich kann nicht voraussetzen, daß der Leser sie alle kennt, aber kennt der Leser denn mich? Und will er das überhaupt? Ich kann es nur hoffen, während ich ihm meine Welt auf einem Tablett voller Anspielungen darbiete."
Smiths "Tablett voller Anspielungen" versammelt einen illustren "Club der toten Dichter": In ihrem Buch verbeugt sie sich vor Michail Bulgakov ebenso wie vor Jean Genet. Sie fliegt um den halben Globus, um die Gräber von Sylvia Plath, Bertolt Brecht oder des Japaners Akutagawa Ryunosuke zu besuchen. Sie beschreibt deren Tod und beschwört deren Werk – und was dieses mit ihr persönlich zu tun hat, eingedenk eines Satzes des Cowboys in ihrem Buch: "Der Schriftsteller ist ein Zugführer."
M Train steht für mystery oder mental train, ein Zauber-Zug assoziativer Gedanken, dessen Haltestellen die Kapitel sind. Sie führen ohne jede Chronologie hin und her zwischen Episoden aus Patti Smiths Vergangenheit und ihrer Gegenwart als bald 70-jährige Frau, die allein mit ihren Katzen in New York lebt und – wenn sie gerade nicht auf Reisen ist und Detektivserien im Hotelzimmer guckt – als Koffein-Junkie tagtäglich ihr Lieblingscafé aufsucht, um dort Notizbücher vollzuschreiben.

Patti Smiths Traum von eigenen Café

Rund um das Café 'Ino in Greenwich Village entspinnt sich ein zarter roter Faden. "Ein Requiem für ein Café", nennt es Smith, denn am Ende gibt der Betreiber auf. Quasi als Devotionalie hütet sie fortan den Stuhl und Tisch ihres Stammplatzes. Aber auch weitere Cafés rund um den Globus spielen eine Rolle. Zak, der Mann, der Patti Smith im 'Ino treu bedient hatte, eröffnet ein eigenes Café am Rockaway Beach – Grund genug für sie, es aufzusuchen und auch darüber zu schreiben. Aus gutem Grund:
Zitatorin: "Er konnte nicht wissen, dass ich früher auch dem Traum von einem eigenen Café nachhing. Wahrscheinlich fing es an, als ich über das Kaffeehausleben der Beats, Surrealisten und französischen Symbolisten las. Wo ich aufwuchs, gab es keine Cafés, aber sie existierten in meinen Büchern und blühten in meinen Tagträumen. … 1965 war ich nach New York gekommen, um mich umzusehen und nichts schien mir romantischer, als in einem Café in Greenwich Village zu sitzen und Gedichte zu schreiben."
Zaks Café ist kein langes Leben beschieden. Hurricane Sandy fegt seinen Traum kurz nach der Eröffnung davon wie ein Kartenhaus. Das baufällige Häuschen, das Patti Smith beim Besuch seines Cafés zufällig in der Nähe entdeckt – und kurze Zeit später auch erworben hatte – bleibt wie durch ein Wunder erhalten. Aber es steht fortan etwas einsam da. Man mag es sinnbildlich nehmen für die Erzählerin. Einsamkeit und Melancholie umwehen ihr Buch.
Neben den vielen toten Dichtern und Schriftstellern, denen Patti Smith ihre Aufwartung macht, sind die Toten in der eigenen Familie die Protagonisten – allen voran Smiths Mann und Vater ihrer zwei Kinder, der Musiker Fred Sonic Smith, dem zuliebe sie New York auf dem ersten Höhepunkt ihrer Karriere Ende der 70er verließ und viele Jahre in Michigan zurückgezogen lebte. Fred starb 1994 mit gerade mal 45 Jahren an Herzversagen.

Smith teilt intime Momente mit den Lesern

Viele Episoden, oder "Haltestellen" im Buch, erinnern an die "Ära kleiner Freuden und mystischen Zeiten in Michigan", wenn sie etwa mit Fred in einem see-untüchtigen Boot im Garten ihres Hauses saß, um Coltranes oder Beethovens Musik zu lauschen. "Du warst schon zu lange weg" schluchzt Patti Smith unvermittelt, in Tränen aufgelöst, bei einer Flugreise in sich hinein – und teilt auch diesen intimen Moment mit ihren Lesern. In einer schlichten, und doch eindringlich verdichteten Sprache voller Beobachtungsgabe. Ihre Sätze sind unprätentiös, aber wirkungsvoll – im Buch genau so wie in den Songs, die sie geschrieben hat. In "M Train" bekommt man einen Einblick in die schöpferische Welt-Wahrnehmung, die hinter der Schriftstellerin und Musikerin Patti Smith steht.
"M Train" ist ein Requiem geworden für die vielen, die Patti Smith überlebt hat. Ihre selbstgeknipsten zwei Dutzend Polaroid-Bilder von Menschen und Friedhöfen, und symbolgeladenen Gegenständen, hat sie den Worten im Buch beigefügt, sie sind ihr "Rosenkranz", wie sie schreibt. "M Train" ist ein bewegendes, aber nie rührseliges Buch geworden, denn zum Glück hat eines Patti Smith in all den einsamen Jahren nicht verlassen: ihr Humor.
Zitatorin: "Klar, ich hatte niemanden. Der Cowboy hatte also vermutlich Recht. Wenn man niemanden hat, ist jeder ein möglicher Liebster. Ein Gedanke, den ich lieber für mich behielt, damit ich nicht den ganzen Tag Herzen aus Spitze auf rotes Bastelpapier kleben und in die ganze Welt verschicken musste."

Patti Smith: M Train
Aus dem Amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit
Kiepenheuer&Witsch, Köln 2016
336 Seiten, 19,99 Euro

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