Paul Auster: "Bloodbath Nation"
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Fatale Waffenliebe in den USA
06:15 Minuten
Paul Auster, mit Fotos von Spencer Ostrander, Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz
"Bloodbath Nation"Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2024192 Seiten
26,00 Euro
Amokläufe in Schulen und Supermärkten oder Nachbarschaftsstreite mit Waffengewalt scheinen in den USA Alltag zu sein. In seinem Essay "Bloodbath Nation" spürt Paul Auster der Waffenliebe seiner Landsleute nach. Eine Erklärung findet er nicht.
Paul Auster verzweifelt an seinem Land. Für einmal legt er keinen Roman vor, sondern einen politischen Essay zur Waffengewalt.
Durch Schusswaffen sterben in den USA so viele Menschen wie bei Autounfällen: 40 000 sind es jedes Jahr. Autos und Schusswaffen seien „die zwei tragenden Säulen unseres nationalen Mythos, denn Auto und Schusswaffe stehen beide für Freiheit und individuelle Ermächtigung“.
In seinem Buch „Bloodbath Nation“ will Paul Auster dem irrationalen Verhältnis seiner Landsleute zu Schusswaffen auf den Grund gehen: Denn während sich die Verkehrssicherheit in den letzten hundert Jahren stark verbessert habe, werde zur Eindämmung der Waffengewalt kaum etwas unternommen.
Tatorte als "Grabstätten der kollektiven Trauer"
Wie in seinen Romanen geht Paul Auster auch im essayistischen Schreiben von seinen eigenen Erfahrungen aus. Vom Zielscheiben-Schießen als Achtjähriger in einem Feriencamp erzählt er ebenso wie von der verstörenden Begegnung mit einem Matrosen, der Spaß daran hat, von einer Autobahnbrücke aus auf Autos zu schießen.
Obwohl Amokläufe nur für einen geringen Prozentsatz der Opferzahlen verantwortlich sind, stehen sie im Zentrum des Buchs. Diese mass shootings seien eine Art Performancekunst geworden, schreibt Auster. Manche der jungen und psychisch schwer gestörten Schützen haben es gar darauf abgesehen, mit der Opferzahl einen neuen Rekord aufzustellen.
Zwischen die einzelnen Kapitel sind Fotografien von Spencer Ostrander, eingefügt. Sie zeigen die stummen Tatorte dieser Verbrechen, „Grabstätten unserer kollektiven Trauer“, so Auster.
Die Ursünden der Sklaverei und des Völkermords
Die Gewalt gründe in der Geschichte des Landes: den beiden „Sünden“ der Ausrottung der Ureinwohner und der Sklaverei. Im Weiteren konstatiert Auster eine politische Spaltung im Hinblick auf das Verständnis von Demokratie: Gibt die Demokratie dem Einzelnen die Freiheit, sich ausschließlich um sich selbst zu kümmern – oder geht es dabei um eine Gemeinschaft, in der sich alle füreinander verantwortlich fühlen?
„Nirgends tobt dieser Konflikt so heftig wie in der laufenden Waffendebatte", schreibt Auster. Zu Zeiten des wilden Westens war Amerika zivilisierter: In der Wildnis war die Schusswaffe nötig, betrat man eine Ortschaft, musste man sie abgeben.
Die Frage, warum sein Land in den letzten Jahrzehnten so gewalttätig wurde, bleibt letztlich ohne Antwort. „Bloodbath Nation“ ist kein Sachbuch, es mangelt an Recherche und politischer Analyse. Themen wie der Aufstieg der National Rifle Association (NRA) zu einer der mächtigsten Lobby-Gruppe des Landes werden nur angetippt, daher fehlen dem Autor die Argumente, um etwa zu erklären, warum schärfere Waffengesetze politisch keine Chance haben, obwohl eine Mehrheit der US-Amerikaner sie befürwortet.
Der unauflösbare Widerspruch
Seine Qualitäten hat das Buch dort, wo Auster als Romanautor schreibt. Zu den Dingen, die man nicht mehr vergisst, gehört das Trauma in Austers eigener Familie: 1919 erschoss seine Großmutter aus Eifersucht seinen Großvater, vor den Augen seines damals neunjährigen Onkels. Auch die packende Schilderung des einzigen mass shooting, in dem je ein „Guter“ mit seiner Waffe dem Amokläufer entgegentrat, liest man atemlos.
Der „Gute“, der durch seinen Einsatz in einer Kirche in Texas 2017 viele Menschenleben rettete, war allerdings ein Unterstützer der NRA. Dieser Widerspruch gewährt einen tieferen Einblick in den Zustand des Landes als alle Theorien.