Paul Auster: "Mit Fremden sprechen". Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren.
Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Robert Habeck, Andrea Paluch, Alexander Pechmann, und Marion Sattler Charnitzky
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
412 Seiten, 26,- Euro
Essays als Entdeckungsreise
07:34 Minuten
Dieser Band versammelt bekannte und unbekannte Texte von Paul Auster. Darin streift er seine Lieblingsthemen wie literarische Übersetzungen, den Erzähler Nathaniel Hawthorne oder Baseball. Sie zeigen vor allem Austers nahezu unerschöpfliche Neugier.
Paul Auster war 20 Jahre alt und alles andere als ein Berufsschriftsteller, als er in eine Kladde schrieb: "Wenn dir die Worte versagen, zerfällst du in ein Bild von nichts." Mit diesen Notizen aus dem Jahr 1967 beginnt die Auswahl von Schriften aus 50 Jahren, die unter dem Titel "Mit Fremden sprechen" neben bereits publizierten auch viele unbekannte Texte präsentiert.
Erstaunlich, wie stark Auster schon in den frühen Notizen programmatisch erkennbar ist: Die Welt ist im eigenen Kopf. Die Welt ist Wahrnehmung, doch wahrnehmbar ist sie nur in der Sprache. Sprache bildet nicht ab, sie schafft Welt – und damit Geschichten, die erzählbar sind. Wer so denkt, ist schon ein Schriftsteller, bevor er daraus eine Profession gemacht hat und auch für die Welt außerhalb des eigenen Kopfes zum Schriftsteller geworden ist.
Übersetzen als Auseinandersetzung mit anderer Kultur
Wenig bekannt ist, dass Auster von 1971 bis 1974 in Paris lebte, sich vor allem für französische Dichtung interessierte und sein Geld mühsam als Übersetzer verdiente. Er schrieb über Paul Celan und Georges Perec, über Samuel Beckett, dem er in Paris begegnete und den er verehrte, über Apollinaire und Mallarmé, Éluard und Artaud.
In all diesen Texten zeigt er, dass Übersetzen mehr ist, als bloß Worte in eine andere Sprache zu bringen. Es ist die Auseinandersetzung mit einer fremden Kultur, der er sich zuerst und vor allem als Leser nähert. Für einen Mann, der die Welt "im eigenen Kopf" hat, sind Bücher der natürliche Zugang.
Leben im Gespräch mit lauter Menschen
Auch der Titel "Mit Fremden sprechen" erklärt sich so. Für Auster stehen Autor und Leser auf der gleichen Stufe, weil ja auch für jeden Leser der Roman "im eigenen Kopf" entsteht. So sind Bücher "der einzige Ort auf der Welt, an dem zwei Fremde sich in uneingeschränkter Zweisamkeit begegnen können". Für den Autor bedeutet das, sein Leben im Gespräch mit lauter Menschen zu verbringen, die er nicht kennt.
In einer anderen Passage, in der es um das Gespräch mit Fremden geht, gibt Auster Anleitungen zum Leben in New York und was man so sagt, wenn man im Central Park Fremden begegnet. Er empfiehlt das Gespräch übers Wetter, denn nichts anderes bringt Menschen schneller zum Reden. Vor dem Wetter sind alle gleich. "Wenn es auf mich regnet, regnet es auch auf dich." Und also entspricht das Gespräch übers Wetter einem Händedruck und dem Niederlegen der Waffen.
Die Welt entsteht im eigenen Kopf
Auster ist in seinen Essays stets erzählerisch. Das heißt, er ist selbst beteiligt, indem er eigene Erlebnisse oder Erfahrungen formuliert. Wenn er über andere Schriftsteller schreibt, ist er als Leser oder Übersetzer gegenwärtig. Oft geht er kleine Nebenpfade und kommt doch zur Hauptsache. So entsteht ein Porträt des großen amerikanischen Erzählers Nathaniel Hawthorne aus dessen Notizen über seinen kleinen Sohn Julian, als er ihn 20 Tage lang alleine versorgte.
Auch Stéphane Mallarmé bringt Auster uns durch die Notizen über dessen geliebten, kränkelnden Sohn Anatole nahe, der mit acht Jahren starb. Indem Mallarmé über ihn schrieb, wollte er, so Auster, "den Jungen in Worte verwandeln und auf diese Weise sein Leben verlängern. Er wollte ihn buchstäblich zum Leben erwecken." Nicht nur die Welt, auch das Leben entsteht im eigenen Kopf.
Austers Neugier ist unerschöpflich
Austers Bandbreite ist enorm. So schreibt er mit großer Empathie über den Hochseilartisten Philippe Petit, den Ethnologen Pierre Clastre, den Baseballspieler Terry Leacher oder seinen Freund, den Zeichner Art Spiegelman und dessen Titelbild für den New Yorker zum 11. September 2001 so intensiv, dass einem dabei die Tränen kommen.
All das sind nicht einfach nur Texte über andere Künstler, sondern immer auch Texte über sich selbst. Auster geht mit denen, die er liest und denen er begegnet, auf Entdeckungsreise. Seine Neugier ist unerschöpflich. Überall findet er Geschichten. Das macht diesen Essayband – auch wenn knapp die Hälfte der Texte in "Die Kunst des Hungers" vor 20 Jahren schon einmal erschienen sind – zu einer außerordentlich anregenden, bereichernden Lektüre.