Kein Projekt, nur Krisenreaktion
Für den Historiker Paul Nolte sind die Zeiten programmatische Politikentwürfe vorerst vorbei. Kanzlerin Angela Merkel richte ihre Politik an Krisen aus. Doch liegt das nur an Merkel oder auch an den Zeiten?
Willy Brandts "Mehr Demokratie wagen" oder Helmut Kohls "geistig-moralische Wende" sind Geschichte. Statt derartiger Ansagen erkennt Paul Nolte in der Merkelschen Kanzlerschaft vor allem eines:
"Man wartet erst mal ab, dann passiert etwas, und man muss darauf reagieren, wie auf den Ansturm von großen Flüchtlingsmengen oder auf Fukushima - und dann verändert sich die Politik."
Das habe viel mit Merkel zu tun. Allerdings seien auch die Zeiten großer Projekte vorbei. Es sei "geradezu eine Klischee gewordene Diagnose - wir sind in einer Zeit der äußeren Gefährdungen", so Nolte:
"Man könnte auch sagen: Wir müssen uns warm anziehen, wir müssen uns schützen, und so verläuft jetzt eigentlich Politik: Wir müssen sehen, dass wir gut geschützt sind gegen Herausforderungen. Wenn dann etwas von außen kommt, wenn dann eine Natur- oder menschengemachte Katastrophe ist, dann müssen wir schnell reagieren können und Konsequenzen daraus ziehen."
"Wir stehen im Schatten eines Agenda-2010-Traumas"
Allerdings seien die Deutschen auch durch das letzte große Projekt - die Agenda 2010 des früheren Kanzlers Gerhard Schröder - noch geschädigt:
"Was immer man inhaltlich von der Agenda 2010 hält (…) - es hat eine traumatische Wirkung in Deutschland gehabt (...). Da ist etwas von oben sehr stark durchgesetzt worden, was vielen Leuten sehr schwer gefallen ist, was auch unbestreitbar hohe Kosten gehabt hat, Folgen, die sich eingestellt haben, auf der anderen Seite. Ich glaube, wir stehen in mancher Hinsicht nicht nur im Schatten Angela Merkels, sondern auch im Schatten eines Agenda-2010-Traumas."
Ob es noch einmal einen anderen Politikstil geben kann, dessen ist sich Nolte nicht sicher. Schon um das herauszufinden, müsste ein neuer Kanzler oder eine neue Kanzlerin gewählt werden. (bth)