Paul Theroux: Mutterland
Aus dem amerikanischen Englisch von Theda Krohm-Linke
Hoffmann und Campe
656 Seiten, 28 Euro
Mächtig, martialisch, mütterlich
Als Schriftsteller ist Jay Justus weit herumgekommen. Dem ungeheuerlichen Bann seiner diktatorischen Mutter kann er sich dennoch nicht entziehen. "Mutterland" ist eine Reise in ein von einer kalten Tyrannin beherrschtes emotionales Schlachtfeld.
Paul Theroux, Jahrgang 1941, gehört zu den versierten, in der Kunst der in ihrer Wahrheit meist boshaften Verknappung besonders geübten Gesellschaftsanalytikern unter den US-amerikanischen Romanciers. Das Leben des Ich in seinem neuen Roman, des nicht mehr ganz jungen Schriftstellers Jay Justus, bekommt er fast in eine Zeile: "Zwei Ehefrauen – erledigt. Zwei Kinder – erledigt. Haus und Grundbesitz erworben und verloren, dito jedes Möbelstück." Vor allem als Reiseschriftsteller hat Jay reüssiert, je weiter weg, desto besser. Doch am Ende entkommen er und seine Geschwister nicht, sie landen immer wieder da, wo sie herkommen: in Mutterland. Das ist nicht etwa ein umhegtes Paradies vertrauensvoller Liebe, sondern ziemlich genau das Gegenteil: "Wir waren ein monströses Phänomen, … ein wütender, isolierter Volksstamm im Krieg mit sich selber, regiert von einer unerklärlichen Wesenheit, der Vorstandsvorsitzenden, der launischen Königin in `Mutterland´."
"Eine Narzisstin, jemand, der einem die Luft abschnürte."
Das Buch verschlingt mehrere Biografien ineinander: die der Mutter, die der Familie und die des Erzählers. Als Antwort auf die Frage, wie autobiografisch das am Ende ist, mag eine Bemerkung genügen, die Theroux in einem Interview gemacht hat: dass er das Buch zu Lebzeiten seiner Mutter nicht hätte schreiben können. Hätte die doch Sätze zu lesen bekommen wie: "Ihr Glück war nur möglich, weil der Rest von uns unglücklich war." Oder: "In ihrer Eigenschaft als Mutter besaß eine Mutter Macht, doch die konnte sie auch völlig verantwortungslos ausüben. Deswegen waren so viele Mütter kalt, unaufmerksam, korrupt, manipulativ, eigensinnig, eitel, materialistisch, diktatorisch. Eine Narzisstin, jemand, der einem die Luft abschnürte."
Wie Stalin, Mao und Pol Pot
Im Wesentlichen beschränkt sich die Handlung des immerhin 650 Seiten starken Buchs auf Spielarten dieser Grundanordnung, zuzüglich der Darstellung der bisweilen komplexen Lebensverhältnisse der Beteiligten (zu denen anfangs kurz übrigens auch ein Vater gehört), wie sie zum Verständnis dieser Vivisektion des Übellaunigen notwendig ist. Mit viel literarischem Geschick, das zu beobachten durchweg großes Vergnügen bereitet, variiert Theroux die Macht- und Unterdrückungsmechanismen von "Königin Lear", zitiert Literatur und Geschichte, schont nichts und niemanden und scheut vor keinem Vergleich zurück: "Mutter machte uns Vorwürfe, weil wir uns so feindselig gegenüberstanden, dabei hatte sie selber diese Feindseligkeit geschaffen. Und warum? Stalin hätte vielleicht die Antwort gewusst, der große Vorsitzende Mao, Pol Pot – der `Bruder Nummer 1´ - oder Genosse Hoxha von Albanien: Damit wir nur ihr gehorchten."
Mutter und Muse
"Es war, als wohnte ich in einem Roman", schreibt Paul Thoroucx alias Jay Justus, wobei einen als Leser der Gedanke durchzucken könnte, dass einem manchmal so ist, als sei es gerade kein Roman, sondern eher so etwas wie: Variationen auf ein Thema, das einerseits nur eine Art minimal music zulässt, sich aber gleichzeitig als groß, größer, übergroß erweist: "Das Exil hatte mich gerettet. Erst als ich alt war und Mutter uralt, hatte ich begriffen, dass sie meine Muse war. Um diese Geschichte zu erzählen, musste ich die größere Geschichte meiner Familie erzählen." Das leuchtet ein.