Paul Thomas Anderson über „Licorice Pizza“
Immer forsch voran: Cooper Hoffman und Alana Haim als ungleiches Paar Gary und Alana in "Licorice Pizza". © picture alliance / Zumapress
Kalifornische Jugendträume
10:33 Minuten
Der US-Regisseur Paul Thomas Anderson ist bekannt für groß inszenierte Filme über obsessive und extreme Figuren, etwa „The Master“ oder „There Will Be Blood“. Warum sein neues Werk „Licorice Pizza“ ganz anders ist, erklärt Anderson im Interview.
In „Licorice Pizza“ erzählt Paul Thomas Anderson in hellen, offenen Bildern von Alana und Gary, die sich ihre Gefühle nicht eingestehen wollen und dennoch gemeinsam im San Fernando Valley der 1970er-Jahre einige Abenteuer erleben. Für den Film hat Regisseur Anderson auch seine Jugenderinnerungen ans Valley einfließen lassen.
Patrick Wellinski: Sie haben „Licorice Pizza“ häufiger als „Home Movie“ bezeichnet, also als eine Art Heimvideo. Inwiefern trifft das auf den Film zu?
Paul Thomas Anderson: Jeder Film wird zum Heimvideo, wenn Sie mit einer großen Gruppe von Freunden und Familienmitgliedern zusammenarbeiten. Das sind Menschen, die man gut kennt, die man liebt. Das prägt den Umgang enorm. Und in „Licorice Pizza“ treibe ich das ins Extrem. Ich habe mit meiner Frau, all meinen Kindern, meinem Onkel und meiner Tante gedreht. Und meine Hauptdarsteller Alana Haim und Cooper Hoffman spielen mit ihren richtigen Eltern und Geschwistern vor der Kamera. Der Film ist eine Familienangelegenheit und damit auch eine Erweiterung unseres Lebens. Viel extremer konnten wir unser Privatleben nicht vor die Kamera zerren.
Intimität am Set
Wellinski: Wie prägt das die Dreharbeiten, wenn Sie mit so vielen Freunden und Familienmitgliedern arbeiten?
Anderson: Das prägt den Filmprozess sehr. Ich sage Ihnen, wo es besonders angenehm wird und es mir das Arbeiten erleichtert: Es gibt zu Beginn des Films eine Szene, die an einer amerikanischen Highschool spielt. Die Kinder im Film gehen alle mit meiner Tochter in die Klasse. Wenn ich sonst mit Statisten arbeite, kenne ich ihre Namen nicht, auch wenn ich mich bemühe. Aber hier kannte ich alle Namen. Das erzeugt eine große Intimität und das prägt die Art, wie ich die Sequenz drehe und inszeniere. Ich fand das sehr hilfreich.
Wellinski: Wie haben Sie denn diese sehr eigenwillige Geschichte für „Licorice Pizza“ entwickelt? Ging es Ihnen um das San Fernando Valley der 1970er-Jahre oder eher um die Beziehung von Alana und Gary?
Anderson: Oh Gott! Das ist eine dieser sehr schwierig zu beantwortenden Henne-oder-Ei-Fragen. Für mich ist es nahezu unmöglich, den kreativen Prozess zu entknoten oder mich so zurückzuversetzen, dass ich diese Momente herauskristallisieren kann. Ich vermute aber, dass der Ursprung des Films doch dieses sehr seltsame Paar Alana und Gary war. Allein schon diese Ausgangslage: Dieser moppelige, nervige Möchtegern-Kinderstar macht sich an diese viel ältere Frau ran. Und er will unbedingt ein Date haben, dabei signalisiert sie ihm, dass er keine Chance hat.
Das war der Anfang. Aber dann fügte ich Erfahrungen und Geschichten ins Drehbuch, die ich über viele Jahre gesammelt habe. Vor allem von einem alten Freund, der in den 1970er-Jahren selber ein Kinderstar im Fernsehen war. Schließlich wollte ich auch meine Jugendgeschichte einarbeiten, meine Erinnerungen an das Leben im San Fernando Valley zu dieser Zeit. Daraus ergibt sich dann das Drehbuch. Ein dichter Eintopf aus Recherche, Memoiren und narrativen Konzepten.
Beziehungsstatus: Es ist kompliziert
Wellinski: Dieser Eintopf, wie Sie sagen, ist ja geprägt vor allem durch die sehr interessante und irritierende Dynamik zwischen Alana und Gary, die irgendwie kein Paar sind, aber es nicht ausschließen – weil sie nicht wissen, was ihr Beziehungsstatus ist?
Anderson: Ja, das haben Sie gut erkannt. Mir war recht schnell klar, dass ich so eine dramaturgische Dynamik unbedingt für den Film brauche. Weil: Wenn man sich einmal über das Schaufensterhafte des Zeitkolorits amüsiert hat, brauchen die Zuschauer schnell etwas anderes, etwas, das ihre Aufmerksamkeit aufrecht erhält. Sonst wird es schnell langweilig. Und ich glaube, ich habe dieses „Etwas“ in der schwer zu beschreibenden Dynamik zwischen Alana und Gary gefunden.
Was passiert, wenn zwei Menschen, die kein Paar sind, plötzlich anfangen, sich aber genau so zu verhalten? Alana bekommt plötzlich Eifersuchtsschübe, wenn Gary eine Beziehung mit einer Gleichaltrigen beginnt, und das obwohl sie ihn dazu ermutigt hat. Plötzlich findet sie das gar nicht mehr so gut. Gary wiederum hat keinen Zugriff auf Alanas Gefühle, ihm bricht es aber jedes Mal das Herz, wenn er sie mit jemand anderem sieht. Beide ziehen sich ständig an, obwohl sie in eine andere Richtung gehen wollen. Diese Dynamik bewegt sich nie hart in eine Richtung, sondern sie pendelt langsam hin und her. Das ist hochinteressant und ist ein spannendes Element für eine sehr tiefe, emotionale Geschichte.
Wellinski: Ich habe Ihren Film auch als eine Art Satire auf den US-amerikanischen Unternehmergeist gelesen. Jede Figur hat eine Geschäftsidee, seien es Wasserbetten, Flipperautomaten oder japanische Restaurants. Aber so richtig Ahnung vom Geschäft hat keiner?
Anderson: Ja, ich glaube das stimmt. Wenn man noch so jung ist wie Gary und Alana, und wenn man so viel Energie und Ambitionen hat wie die beiden, dann kommt einem in den Vereinigten Staaten der 70er-Jahre alles wie eine gute Idee vor. Viel mehr braucht es nicht, um in Amerika groß rauszukommen.
Wellinski: Hollywood ist im Film immer um die Ecke im San Fernando Valley. Es wirft auch seine düsteren Schatten auf die beiden Helden. Sie begegnen mehreren sehr gestörten Schauspielern und Stars, die wie freakige Egomanen wirken. Zeigen Sie damit ein Hollywood, das Sie damals selbst so erlebt haben oder ist das eine adäquate Beschreibung der heutigen Hollywood-Stars?
Anderson: Schwer zu sagen. Wissen Sie, ich würde gerne sagen, dass diese Art des extremen Egoismus und Narzissmus keine Rolle mehr spielt und uncool geworden ist. Aber ich vermute, das ist falsch. Ich bewege mich aber selber nicht in dieser Szene und halte mir solche Persönlichkeiten vom Leib. Aber es gibt diesen Spruch von Dorothy Parker, dass unter der Oberfläche jedes Schauspielers und jeder Schauspielerin eine Diva steckt, die freigelassen werden möchte. Daran war lange Zeit etwas dran. Aber Figuren wie ich sie in meinem Film comichaft überzeichne, sind in dem hoch professionellen Umfeld vom heutigen Hollywood kaum mehr zu finden. Viele sagen zum Beispiel, Joaquin Phoenix sei eine Diva. Das ist aber Unsinn. Ich kann das nicht bestätigen – jedenfalls nicht für die Schauspieler*innen, mit denen ich zusammenarbeite.
Drehen mit mentaler Skizze
Wellinski: Der Film wird durch eine Folge wunderbarer Plansequenzen strukturiert. Aber Sie arbeiten auch mit sehr expressiven Close-Ups. Wie entstehen diese Entscheidungen? Ist das Teil des Drehprozesses oder planen Sie sowas vorab?
Anderson: Teils, teils. Ich arbeite so, dass ich mit so einer Art intuitiven Skizze ans Set gehe. Es gibt eine Idee davon, wie ich Dinge erzählen und zeigen möchte, aber nichts ist in Stein gemeißelt. Eine mentale Skizze auf Schmierpapier, mehr habe ich kaum. Für mich muss jedes Konzept immer veränderbar sein. Das ist das A und O. Es wäre aber auch ein Fehler, komplett unvorbereitet ans Set zu kommen.
Ein großer Vorteil von „Licorice Pizza“ war, dass der Film vor meiner Haustür spielt. Hier lebe ich, ich fahre die Wege ab, hier arbeite ich, ich kenne die Schulen, die Cafés, kenne jede Ecke – das filmt sich dann auch leichter. Ich bin mit meinem Smartphone rumgelaufen, habe kleine Szenen gefilmt, und ich bekam so sehr schnell ein gutes Gefühl dafür, welche Ideen funktionieren werden und welche nicht.
Und dann gibt es noch diese unbekannte Variable der Darstellerinnen und Darsteller. Manchmal machen die etwas Magisches vor der Kamera, das sich unmöglich planen lässt. Dafür muss ich offen sein.
Wellinski: Wie viel Platz für Improvisation gibt es am Set eines Paul Thomas Anderson?
Anderson: Genug, würde ich sagen. Meistens ist es recht offensichtlich, in welcher Szene ich Platz zum Improvisieren lassen wollte. Das entscheidet sich schon beim Schreiben. Es gibt Szenen, die ich so anlege, dass man sie bitte Wort für Wort sprechen soll, damit sie funktionieren. Manchmal schreibe ich aber auch nur Szenengerüste, die die Darsteller dann füllen müssen. Zum Beispiel die Bradley-Cooper-Szene im Film: Den Moment, wenn unsere Helden ihm begegnen, hatte ich streng vorgegeben. Aber die zweite Szene, wenn sie mit ihm im Laster fahren, hatte ich kaum vorgefasst. Und da Bradley Cooper phänomenal improvisieren kann, hat er den Rest erledigt. Er hat hier Großes geleistet.
„Natürlichkeit war die große Vorgabe“
Wellinski: Die Bilder von „Licorice Pizza“ haben eine sehr interessante Struktur, sind sehr haptisch, verfügen über ein sehr spezielles Licht. Wie haben Sie diesen Look erarbeitet?
Anderson: Ich wollte nicht, dass meine Bilder zu gut aussehen, nichts zu Glattes, nichts zu Perfektes. Vor so was habe ich häufig Angst. Dem möchte ich aus dem Weg gehen. Das Licht durfte hier nicht zu nett sein, keine Überbelichtungen. Gleichzeitig, weiß ich, dass ich hier eine Geschichte erzähle, die von großen Gefühlen handelt. Das verlangt hin und wieder auch nach einem „schönen Bild“. Diese Balance zu halten, war eine Herausforderung. Natürlichkeit war meine große Vorgabe. Aber ich gehe immer sehr logisch vor. Ich frage mich: Was ist die Lichtquelle dieser Szene: das Fenster oder die Lampe? Das navigiert mich durch den ganzen Drehprozess. Wenn ich dann doch etwas aufpolieren muss, dann mach ich es einfach.
Wellinski: Dennoch unterscheidet sich der Rhythmus von „Licorice Pizza“ von dem obsessiven Ton Ihrer vorherigen Filme. Hier ist alles sehr viel freier, leichter, offener. Wie entsteht sowas bei Ihnen?
Anderson: Es wäre ein totaler Fehler, meine Figuren aus „Licorice Pizza“ mit einer harten und strengen Kamera zu filmen. Bei mir ist es so: Die Figuren geben den Stil und die Form der Bildkader vor. Denn die Kamera spiegelt die Energie der Figuren. Wenn ich an meinen letzten Film „Der seidene Faden“ denke, dann war er sehr streng kadriert. Es gab wenig Bewegung, viel Präzision. Aber so war ja auch die Hauptfigur. So arbeite ich immer. Die Figuren in „Licorice Pizza“ sind so frei, so schnell und impulsiv, dass die Kamera ihnen hinterherjagen muss, um sie überhaupt einzufangen.