Paulus Hochgatterer: Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war
Deuticke Verlag, Wien 2017
112 Seiten, 18 Euro
Das Mädchen mit dem braunen Heft
Eine 13-Jährige hat zu Kriegsende ihr Gedächtnis verloren, aber in einem kleinen Heft bewahrt sie Erzählungen auf. In Paulus Hochgatterers Roman "Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war" geht es um Traumabewältigung mit Hilfe von Literatur - und alle Geschichten gehen gut aus.
Die Bücher Paulus Hochgatterer leben stark von den Erfahrungen, die er als Kinderpsychiater macht. Verstörte Kinder spielen immer wieder eine zentrale Rolle, sei es, dass es wie in dem Kriminalroman "Das Matratzenhaus" um Kindesmissbrauch ging, oder, wie in "Die Süße des Lebens", um ein siebenjähriges Mädchen, das durch ein Trauma seine Sprache verliert.
Auch in der Erzählung "Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war" steht ein Mädchen im Mittelpunkt der Ereignisse gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Ich-Erzählerin ist die 13-jährige Nelly, die zwar nicht aufgehört hat zu sprechen, die aber ihr Gedächtnis verloren hat – oder das zumindest vorgibt. Ihre Familie – so die Vermutung – kam im Oktober 1944 bei einem Bombenangriff der Alliierten auf die Nibelungen-Panzerwerke im niederösterreichischen St. Valentin ums Leben. Sie findet Aufnahme an einem Bauernhof in der Gegend, wo sie sich zwischen fünf Töchter einreihen muss.
Die Ereignisse kurz vor Kriegsende überschlagen sich, nachdem zunächst ein russischer Kriegsgefangener auftaucht und ebenfalls Asyl bekommt. Er ist Maler, Anhänger des Suprematismus. Er hat expressionistische Bilder bei sich, die offenbar aus dem Bestand von Hermann Göring stammen. Nelly ist fasziniert von diesem jungen Mann, der aber mit einer der Töchter des Hauses eine Romanze beginnt. Kurz darauf akquiriert ein deutscher Leutnant mit zwei Gefreiten den Bauernhof, entdeckt die russische Herkunft des Geflüchteten und verhört ihn auf sardonische Weise: Die Szene erinnert an Quentin Tarantinos "Inglourious Bastards", wo Christoph Waltz eine ähnlich angelegte Figur spielt. Es ist klar, dass am Ende nur die Erschießung des Russen stehen kann.
Ein Unglück im Konjunktiv
Doch da bewährt sich das Erzählen als Widerstandsakt. Hochgatterer bietet gleich drei mögliche Ausgänge der Geschichte an. Er kann das, weil Nelly, seine Erzählerin, ein braunes Heft besitzt, in das sie ihre Versionen schreibt. Die sind als kleine, abgeschlossene auktoriale Erzählungen zwischen die in Ich-Form vorgetragenen Ereignisse eingefügt. So erfährt man zunächst von einem Nachbarn, der so verstört sei, dass er nicht mehr eingezogen werden konnte, nachdem sein kleiner Junge in einem Fluss ertrank. Die kurz darauf eingefügte Geschichte erzählt zunächst den Verlauf dieses Unglücks, aber im Konjunktiv: So wäre es am wahrscheinlichsten gewesen. Doch auf den schlechten Ausgang folgt ein alternatives, glücklicheres Ende, das als Fakt eingesetzt wird. Ganz ähnlich funktioniert die Geschichte vom "nicht erhängten Soldaten", so dass sich die vom "nicht erschossenen Suprematisten" aus der seriellen Logik ergibt.
Das Mädchen Nelly mit dem braunen Heft, das durch den Gedächtnisverlust so ganz in der Gegenwart gefangen scheint, könnte den Romanen von Agota Kristof entsprungen sein, so nüchtern, angstlos und klug wie sie sich schreibend neu zusammenfügt. Das gute Ende, das sie aus jeder Geschichte herauswirtschaftet, ist literarische Traumabewältigung. Schließlich gibt es die Literatur dafür, dass sie die Möglichkeitsräume vergrößert.
Hochgatterer hat für dieses verstörte, zärtliche Mädchen eine behutsame Sprache gefunden, in der alle Gefühle unter einer dünnen Haut verborgen bleiben. Es ist eine warmherzige Geschichte, die neben ein paar Nazi-Bösewichtern vor allem menschliche Solidarität aufleuchten lässt. Das Gute würde in diesem Buch auch dann siegen, wenn die Geschichte schlecht endet, denn es ist die ganze Zeit über da.