"Liebe wächst mit der Entfernung"
„Cold War“ erzählt von der jungen Sängerin Zula, die sich Ende der 40er-Jahre in den Dirigenten eines polnischen Volksmusikensembles verliebt. Die komplizierte Liebesgeschichte seiner Eltern habe ihn dazu inspiriert, sagt Pawel Pawlikowski.
Pawel Pawlikowski: Ich habe mein Leben lang im Schatten meiner Eltern und ihrer komplizierten Liebesgeschichte gelebt. Sie waren wunderbare Menschen, aber keine guten Eltern. Sie waren sehr mit ihrem eigenen Seelenleben beschäftigt. Zu ihren Lebzeiten fand ich es nur anstrengend. Aber nachdem sie 1989 gestorben waren – kurz bevor die Mauer fiel und der Kalte Krieg zu Ende ging – da hat sich das alles für mich geändert. Ich fand sie faszinierend, zwei sehr starke Persönlichkeiten aus sehr unterschiedlichen Familien. Ihre Beziehung war schlimm, aber auch unzerstörbar. Das ist doch die Matrix für eine Liebesgeschichte.
Eine zerstörerische und chaotische Beziehung
Lange dachte ich allerdings, dass ich darüber keinen Film machen kann. Ich fand ihre Beziehung teilweise zu zerstörerisch, zu chaotisch, sie haben sich zu häufig getrennt und sind wieder zusammen gekommen. Es hätte aus dramaturgischer Sicht keinen Sinn ergeben. Ich musste einen Schritt zurücktreten, die Charaktere teilweise neu erfinden und das Thema Musik hinzufügen. Und sobald ich die Musik drin hatte und die beiden als eigenständige Figuren begriff, wurde alles viel einfacher.
Susanne Burg: In Ihrem Film sind dann Wiktor und Zula, die sich verlieben. Sie spannen einen Zeitraum von fast 20 Jahren, aber ihre Liebe beginnt im Nachkriegspolen. In einer Atmosphäre der Erschöpfung, aber auch ein bisschen der Angst. Inwieweit ist Zulas und Wiktors fast ekstatische Liebe verbunden mit der Situation in Polen?
Erschöpfung, Entbehrung und Sehnsucht nach Liebe
Pawlikowski: Es war eine Zeit der Erschöpfung und Entbehrung, aber es war auch die Nachkriegszeit, in der es die Sehnsucht nach Liebe gab. Es herrschte Stalinismus, aber auch eine große Lebensfreude.
Burg: Die Frage, die dahinter steckt, ist, inwieweit wird ihre Liebe auch befeuert durch die politische Situation, vielleicht auch durch die Behinderung ihrer künstlerischen Arbeit, ja durch die Situation, die sie als Künstler in Polen erleben?
Pawlikowski: Wissen Sie, sowohl Wiktor als auch Zula sind 1949 schlecht dran. Wiktor will viel lieber Jazz spielen. Aber Jazz war zu dieser Zeit in Polen verboten. Also arbeitet er bei diesem Folkensemble. Das ist interessant, aber nicht sein Ding. Er hat eine etwas lieblose Affäre mit der Chefin des Ensembles. Als dann Zula auftaucht, diese blonde Frau voller Energie und Charme und Zauber, erliegt er ihr sofort.
Zula wiederum kommt aus einer mittellosen Familie voller Probleme. Für sie ist es eine große Sache, als sie sich bei dem Folkensemble bewirbt und genommen wird. Wiktor ist großartig, aber für sie vor allem der Boss, was ihm einen ziemlichen Sexappeal gibt.
Liebe in Zeiten stalinistischer Trostlosigkeit
Die Anziehung ist groß, und es stimmt, ihre Beziehung ist ein Gegengift für die Trostlosigkeit und die stalinistische Atmosphäre voller Angst, die sonst herrscht. Aber dann entdecken wir im Film, dass ihre Liebe auch nicht so rein ist, dass es da auch einen Subtext gibt. Es ist alles kompliziert. Nichts ist jemals einfach.
Burg: Wiktor geht dann nach Paris und beginnt, sich dort in der Jazzszene zu bewegen. So richtig glücklich scheint er da aber nicht, auch musikalisch nicht. Warum eigentlich nicht?
Das idealisierte Bild des Anderen führt zum Desaster
Pawlikowski: Wiktor hat noch ein anderes Problem. Er ist kein Genie. Er mag Jazz und er ist ein guter Musiker. Er spielt Bebop in einem Quintett, hat eine neue Freundin. Eigentlich ist alles in Ordnung. Als Zula dann nach zwei Jahren auftaucht, fällt ihm auf, dass es ihm schlecht geht. Und dass Zula die Liebe seines Lebens ist. Das ist ja auch klar: Liebe wächst mit der Entfernung. Deshalb ist in den Köpfen der beiden dieses idealisierte Bild des Anderen entstanden, was später zum Desaster führt.
Burg: Die Frage, die ich mir stelle ist, inwieweit Wiktor immer auch ein bisschen entwurzelt ist. Inwieweit wollten Sie die Geschichte auch musikalisch erzählen, in Form von Liedern, die dann auch zu hören sind?
Musik bringt sie zusammen – und auseinander
Pawlikowski: Musik ist der Klebstoff, der den Film zusammenhält. So kommen sie zusammen, in der Szene, in der er die Tonleiter mit ihr übt und am Ende "I love you Porgy" spielt. Eine Verführungsszene, die über die Musik funktioniert. Und Musik ist ein ständiger Spiegel dessen, wo sie in ihrer Beziehung stehen. Und wo wir von der Zeitgeschichte her sind. Als "Rock Around the Clock" auftaucht, zeigt sich der Unterschied zwischen beiden. Er unterhält sich und kann nichts damit anfangen, sie tanzt wie verrückt. Musik ist die dritte Figur in der Beziehung. Musik bringt die beiden zusammen, auseinander, wieder zusammen, wieder auseinander… Die Musik ist der Schlüssel.
Synkopisches Erzählen
Burg: Ist die Musik auch der Schlüssel für die Art und Weise, wie Sie den Film erzählen? Weil Sie arbeiten auch viel mit Ellipsen. Sie springen von Ost-Berlin 1952 nach Paris 1954, nach Jugoslawien 1955, und manchmal habe ich mich gefragt, ob der Film selber nicht auch so einen musikalischen Rhythmus hat.
Pawlikowski: Ja, ich habe das noch nicht so gesehen, aber es stimmt. Ich mag Synkopen in der Musik und ich mag Synkopen in der Kunst. Ich mag es, die Erwartungen der Zuschauer zu unterwandern, nicht vorhersagbar von A nach B zu gehen, sondern von A nach F zu springen wie im Jazz und zu fragen: Was passiert jetzt? Es ist viel aufregender, mit Synkopierungen zu arbeiten, mit Überraschungen und wechselnden Akkorden.
"Langweile mich nicht mit der Prosa des Lebens"
Mich langweilen Filme, die nach dem Ursache- und Wirkungsprinzip aufgebaut sind. Erst passiert das, weil vorher das passiert ist, dann passiert das, und es gibt diese vielen Dialoge, die alles erklären. Das gibt mir keinen Kick, das interessiert mich nicht. Das ist für mich kein Kino, keine Kunst. Ich mag intravenöse Injektionen. Und ich mag starke Beats, nicht irgendwelche lahmen Rhythmen, die einen von A nach B tragen.
Mir ist schon bei "Ida" und auch bei meinen Dokumentarfilmen aufgefallen: Man muss nicht immer alle Lücken füllen. Konzentriere dich einfach auf das, was ausdrucksstark ist und gib genau so viele Informationen, dass die Zuschauer verstehen, was zwischendrin passiert ist. Konzentriere dich aufs Kino, auf die Musik, auf die Bilder, auf starke Momente und langweile mich nicht mit der Prosa des Lebens. Ich weiß, dass auch manchmal genau das Gegenteil wahr ist, dass es toll ist, der Prosa des Lebens beizuwohnen. Filmemacher, die dem Realismus verschrieben sind, können das wunderbar, aber mich treiben eher Beats und Synkopen an.
Burg: Und eine andere Sache ist natürlich das Schwarz-Weiß, das Sie schon für "Ida" gewählt haben. Ich habe gelesen, dass Sie für "Cold War" eigentlich in Farbe arbeiten wollten, dann aber doch beschlossen haben, in Schwarz-Weiß zu drehen. Warum?
"Schwarz-Weiß ist da ehrlicher"
Pawlikowski: Weil ich nicht die richtigen Farben gefunden habe für Polen in den späten 40ern und frühen 50ern. Es war grau und braun und trüb. Es gab keinen Strom auf dem Land, die Menschen trugen keine bunte Kleidung – abgesehen von den Folklore-Kostümen. Ich hätte es in einer sowjetischen Technicolor-Ästhetik machen können, mit diesen ausgewaschenen Farben, aber als wir ein paar Tests gemacht haben, wirkte das so beliebig und irgendwie auch prätentiös. Schwarz-Weiß ist da ehrlicher. So kennen wir die Zeit ja auch von Fotos und aus Filmen.
Trotzdem wissen alle, dass die Welt nicht schwarz-weiß war. Es ist also eine Annäherung an die Welt oder eine Art Steno. Und gleichzeitig ermöglichte uns Schwarz-Weiß – anders als braun, grau und grün – den Film sehr kontrastreich und ausdrucksstark zu gestalten. Das Schwarz-Weiß sollte ein eigenes Leben haben, mit starker Körnung. Es sollte also so farbig wie möglich sein. Ich hoffe, das ist uns gelungen.
Burg: Es ist natürlich der Film über diese Amour Fou oder die Frage: Ist es Liebe oder Amour Fou? Aber es geht ja auch um den Künstler im Exil, weil Wiktor wohnt in Paris. Und wir haben schon über Ihre Eltern gesprochen und deren Liebe, aber Sie selber haben ja auch eine Künstler-im-Exil-Geschichte. Sie haben in Paris gewohnt, in London, sind wieder zurück nach Polen gezogen, haben ja auch filmisch sich in unterschiedlichen Sphären bewegt und jetzt mit Ihren letzten beiden Filmen sind Sie ja auch wieder nach Polen zurückgegangen. Inwieweit sehen Sie das auch ein bisschen als eine Reflektion Ihres eigenen Lebens?
Geschichte, die sich in der Landschaft niederschlägt
Pawlikowski: Es stimmt, als ich nach Polen zurückgegangen bin, sind bei mir wieder sehr emotionale alte Themen hochgekommen, die ich seit langem mit mir herumtrug, manchmal auch, ohne dass es mir bewusst war. Ich habe viel Zeit in England verbracht. Bei den Filmen, die ich dort gedreht habe, fehlte mir aber immer irgendwie eine zweite Ebene und ich habe damit gekämpft. Ich habe viele Dokumentarfilme in Osteuropa gedreht. Die Geschichte dort, die sich auch in der Landschaft niederschlägt, die Geschichte der Leute, das inspiriert mich. Und der Umzug nach Polen hat mich in gewisser Weise befreit. Ich sage nicht, dass es eine bessere Welt zum Leben ist, aber es ist eine Welt, die für mich künstlerisch stimulierender ist. All die Figuren, Gefühle, existentiellen Situationen, in denen jede Entscheidung große Konsequenzen hat und die Geschichte, die ich in jeder Mauer spüre, in der Landschaft – das stellt etwas mit mir an. Und das Persönliche mit dem Historischen zu vermählen, das treibt mich im Kino an.
"Jeder Film folgt einer bestimmten Logik"
Burg: Und "Ida" war ja dann auch ein großer Erfolg, hat Ihnen auch den Oscar eingebracht. Haben Sie danach einen Druck gespürt, einen Film danach zu machen?
Pawlikowski: Nein, überhaupt nicht. Wenn ich jünger wäre, wäre das vielleicht passiert. Aber wie Sie gesagt haben – und ich habe es bestätigt – bin ich auf irgendeiner Reise mit meinen Filmen. Es gab eine Zeit, in der ich Dokumentarfilme gemacht habe. Das fand ich sehr spannend. Dann machte ich irgendwas dazwischen, dann einen exzentrischen Film in Paris.
Jeder Film folgt einer bestimmten Logik. Er spiegelt in gewisser Weise wieder, wo ich mich in meinem Leben gerade befinde. Ich denke nicht mehr über meine Karriere nach – das wäre vielleicht anders gewesen, wenn ich mit 25 einen Oscar gewonnen hätte. Dann wäre ich vielleicht nach Amerika gegangen. Aber jetzt neige ich dazu, nur Filme über Dinge zu machen, die mich interessieren. Das ist ehrlich gesagt das einzige Kriterium.