Nie wieder edle Wilde

Schon der Maler Paul Gauguin verklärte in seinen Bildern Tahiti. Die Pazifikinsel steht für Schönheit und Exotik. Die Bewohner, die nach wie vor französische Staatsbürger sind, erinnern sich hingegen immer mehr ihrer kulturellen Wurzeln und wehren sich gegen Klischees.
10.000 Meter über dem Meer. Der Blick aus dem Flugzeugfenster verrät: Wasser wohin das Auge reicht. Was, wenn der Pilot an dem winzigen Eiland von der Größe Berlins inmitten des Pazifischen Ozeans vorbeifliegt?
Die junge Frau entspricht ganz und gar dem westlichen Klischee einer Südseeschönheit: langes, schwarzes Haar, groß gewachsen, braune Augen und weiche Gesichtszüge.
Noch auf dem Rollfeld bekommt jeder Neuankömmling eine bunte, aus Blumen geflochtene Kette um den Hals gelegt – wie im Film.
Es geht fröhlich zu, eine Musikgruppe heißt die Besucher Willkommen.
Die Frauen tragen die weiße, siebenblättrige und stark duftende Tiare Blüte hinterm Ohr. Links bedeutet: verheiratet, rechts: noch frei.
Tahiti - Perle der Südsee, so wird die Hauptinsel von Französisch-Polynesien gern bezeichnet.
Der chilenische Archäologe Claudio Cristino hat mit seinen Forschungen dazu beigetragen, so manches Rätsel über Tahiti und Französisch-Polynesien zu lösen:
"Das 18. Jahrhundert war das Jahrhundert der Aufklärung - mit den Ideen Rousseaus und seiner Zeitgenossen. All jene ersten Entdecker, die Orte wie Tahiti aufspürten, glaubten doch, dass sie das verlorene Paradies wiedergefunden hätten.
Sie schufen Bilder, die in Europa die Vorstellung vom edlen Wilden weckten, der in Harmonie mit der Natur lebt. Das waren romantische Ideen, aber sie haben lange Zeit die Forschung beeinflusst. Ganze Generationen von Wissenschaftlern, Historikern und Archäologen haben versucht, diese Idee weiterzuentwickeln. Aber die Idee von einer Harmonie mit der Natur, einer unberührten Gesellschaft mit wunderschönen Menschen, die unter den Kokospalmen singen und tanzen, diese Vorstellung ist ein totales Fantasieprodukt."
Vom Paradies keine Spur
Es ist schwül und heiß, das ganze Jahr hindurch, 30 Grad, die Wassertemperatur liegt vielleicht zwei Grad darunter. 90 Prozent Luftfeuchtigkeit setzen jedem Neuankömmling zu. Der Weg vom Flughafen in die Hauptstadt Papeete ist stickig und stinkend. Vom Paradies keine Spur.
Es geht vorbei an McDonald’s Restaurants, Tankstellen und riesigen Supermärkten. Statt schlanker, schöner Südseemenschen sind übergewichtige, Fastfood essende, Flipflop tragende Polynesier zu sehen – vor allem Jugendliche. Der Kinderreichtum kann zum Problem werden. Arbeitsplätze gibt es für die jungen Tahitianer kaum. Heute sind 43 Prozent der Bevölkerung Tahitis unter 20 Jahre alt. Höher qualifizierte Positionen werden oft von Franzosen besetzt, während für die Bevölkerung die gering bezahlten Tätigkeiten übrig bleiben.
Trotz Teilautonomie istFranzösisch-Polynesien noch immer stark von den finanziellen Zuschüssen Frankreichs abhängig – mit dem Ergebnis, dass das Bruttoinlandsprodukt zwar zu den höchsten im südlichen Pazifik zählt: Der Lebensstandard ist vergleichbar mit Griechenland, Portugal oder Südkorea.
Andererseits führten die Finanzspritzen aus Paris dazu, dass die traditionelle Landwirtschaft wie der Anbau von Kopra und Kaffee zum Erliegen gekommen ist. Tourismus, Perlenzucht und Fischerei – das sind die drei Stützpfeiler Französisch-Polynesiens. Zum Wochenendvergnügen der Tahitianer gehört es, mit benzinfressenden Pick-Ups um die Insel zu fahren und laut Musik zu hören.
Tahiti sei längst kein Paradies mehr, erklärt Fremdenführer Arnaud Luccioni:
"Wir sind jetzt im größten Tal von Tahiti – dem Papenoo Valley. Vor 200 Jahren gab es hier noch 10.000 Einwohner, die in etwa 40 Dörfern lebten. 90 Prozent dieser Menschen starben durch Krankheiten, die von den Europäern eingeschleppt wurden. Der Rest wurde schließlich christianisiert. Deshalb lebt heute niemand mehr im Tal von Papenoo. Dafür sind die christlichen Kirchen zu den Gottesdiensten immer voll besetzt, ihre alte Religion haben die Tahitianer aufgegeben."
Luccioni, der mit einer Tahitianerin verheiratet ist, beklagt den Verlust der alten polynesischen Kultur. Sie sei zur Folklore erstarrt für die zahlungskräftigen Touristen aus den USA, Asien und dem fernen Europa.
Doris Maruoi arbeitet im Norden Tahitis, im Tal von Papenoo. Tahitianer haben hier eine Art Freilichtmuseum errichtet, um das kulturelle Erbe Polynesiens zu erhalten. Haururu nennt sich das nicht-staatliche Projekt. Die korpulente Mittvierzigerin kümmert sich um Tanz und Gesang, religiöse Zeremonien, Sprache und Handwerkskunst.
Tahitianisch vom Aussterben bedroht
Doris Maruoi redet in der alten Sprache ihres Volkes. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass es sich dabei um eine polynesische Sprache handelt. Heute ist das Tahitianisch vom Aussterben bedroht, denn die offizielle Amtssprache ist Französisch. Durch die rigide französische Sprachpolitik waren polynesische Sprachen lange Zeit verboten – auch in den Schulen. Heute wachse eine Generation von Kindern und Jugendlichen heran, die Tahitianisch nicht mehr aktiv spreche und nur noch oberflächlich verstehen könne, beklagt Doris Maruoi:
"Seit einigen Jahren versucht man in den Schulen, sich wieder der eigenen Wurzeln zu besinnen. Die alten Texte werden wieder gelernt, die mündlichen Traditionen werden aufgegriffen. Das geschieht zum einen durch die Kunst, Texte dichterisch vorzutragen, zum anderen dadurch, dass man polynesische Zeitschriften und Lehrbücher in den Schulen benutzt."
In den Medien, im Fernsehen, im Radio und in den Zeitungen ist Tahitianisch kaum verbreitet.
"Trotz der französischen Kolonisierung, trotz der Bemühungen, die Menschen von ihren Traditionen zu entfremden, ist im kulturellen Gedächtnis der Tahitianer die lebendige Erinnerung an ihre Sitten und Bräuche geblieben. Auf Tahiti wurde zwar nichts aufgeschrieben. Trotzdem existieren Überlieferungen. Das zeigt sich vor allem in der mündlichen Sprache. In vielen Wörtern offenbart sich unsere Tradition, unsere Denkweise. In den Schulen sagt man immer, dass es wichtig sei, unsere Sprache zu lernen, aber niemand erklärt den Schülern, warum. Aber wir, die wir in diesem Bereich arbeiten, brauchen die Sprache, um wieder zu den Erinnerungen und Traditionen zurückzufinden."
1994 wurde Haururu gegründet.Zwar erhält der Verein für seinen Dienst an der Öffentlichkeit projektbezogen staatliche Unterstützung. Trotzdem ist er auf die Fördermitglieder und Sponsoren angewiesen. Auch Touristenführungen bringen Geld in die Vereinskasse.
"Unsere Jugendlichen machen die gleiche Entwicklung wie andernorts durch: Das Fernsehen verändert auch ihre Welt. Eine neue Vereinzelung findet statt – auch durch die fehlenden Großeltern. Sie waren früher die wahren Lehrmeister des Lebens. Sie haben einer Familie Rahmen und Sicherheit gegeben. Heutzutage gibt es das nicht mehr. Heute haben Kinder und Jugendliche nur mehr ihre Eltern und oft wird der Fernseher zum Erzieher."
Es regnet, in der Nähe des Papenoo-Flusses liegt das kleine historische Haururu-Dorf: einfache offene Hütten aus Baum- und Pflanzenmaterialien. Die Fenster ohne Glas und Rahmen, aber mit beweglichen, an Stangen befestigten geflochtenen Palmenblättern zum Öffnen; die Dächer sind mit großen Pandanusblättern gedeckt. Damit bieten die Hütten eine gute Isolierungen gegen das tropische Klima; die leichten Wände aus aufgehängten, geflochtenen Palmblättern sind durchlässig für den Wind und sorgen für eine gute Belüftung.
Tätowierungen haben eine spirituelle Bedeutung
In der Mitte des Dorfes: ein großer offener Versammlungsraum. Regelmäßig treten hier Tanz- und Gesangsgruppen auf, die die alten Lieder und Bräuche der Vorfahren aufführen – darunter viele junge Tahitianer. Auch Tätowierer gibt es hier: Die christlichen Missionare hatten diese tahitianische Körperkunst seit dem 18. Jahrhundert verboten. Erst seit einigen Jahrzehnten wird sie wieder praktiziert. Doch anders als westliche Modetätowierungen erzählen tahitianische Tattoos Geschichten: von der Hochzeit der Großeltern oder der Geburt des eigenen Kindes. Viele Tätowierungen haben für die Tahitianer eine spirituelle Bedeutung.
Obwohl man in Polynesien weder Kompass noch Schriftsprache oder Metallwerkzeuge kannte, waren die Inselbewohner Meister der Navigation und der Seefahrt mit ihren Kanus.
"Ich bin Präsident von Faafaite, einer Nicht-Regierungsorganisation. Wir beschäftigen uns mit der traditionellen polynesischen Technik der Navigation."
Ungefähr um 1200 nach Christus hatten sich die Polynesier in dem riesigen Ozeandreieck zwischen Hawaii, Neuseeland und der Osterinsel auf jedem bewohnbaren Fleckchen Land niedergelassen. Jetzt versuchen sie, auch diese Jahrhunderte alten Traditionen wieder aufleben zu lassen:
"Wir haben sieben Kanus gebaut, die alle auf das gleiche Modell zurückgehen, das wir Tipaerua nennen und das aus Französisch-Polynesien stammt. Unsere junge Generation, aber auch manche Alten wissen darüber gar nichts oder nur wenig. Unser Ziel ist es, das Navigieren und den Bootsbau wiederzubeleben. Aber es geht auch darum, dass wir uns mit den anderen pazifischen Völkern und ihren Kulturen austauschen."
Mata Hi Tutavae ist Mittdreißiger und Familienvater. Im blauen T-Shirt und Kakishort sitzt der NGO-Präsident auf einer Holzbank: braune Augen, schwarze Haare und Mittelscheitel, stolzer Blick.
"Heute unternehmen wir Reisen, tausende Seemeilen über den Pazifik ohne moderne Navigationsgeräte. Dafür haben wir Boote konstruiert, gelenkt von einer neuen Segler-Generation. Es geht dabei aber um kulturelle Werte, das ist uns sehr wichtig. Tahiti und seine Bewohner wurden lange Zeit kolonialisiert. Heute wissen viele junge Tahitianer nicht mehr, wer sie sind, woher sie kommen. Unsere Geschichte gründet sich auf der Verbindung zum Meer, aber das Wissen darum ist verschüttet. Wir müssen wieder zurück zu den Anfängen – und zwar nicht, um wie vor 250 Jahren zu leben. Es geht vielmehr darum, sich der alten Werte zu besinnen, damit wir heute überleben können, ohne den Ozean und seine Lebenswelt zu zerstören."
Westlich orientierter Alltag
Heute sei der Alltag auf Tahiti westlich orientiert, sagt Mata Hi Tutavae. Vor allem seit Frankreich zwischen 1966 und 1996 im Zuge seiner Atomtests massiv versucht habe, französisches Denken und französische Staatsstrukturen durchzusetzen. Die jungen Erwachsenen seien Fremde im eigenen Land geworden und lebten zum Teil in unwürdigen Slums.
Arbeitsplätze gibt es für die jungen Tahitianer nur wenige. Der Lebensstil mit Selbstversorgung durch Klein-Landwirtschaft und Fischfang wäre in diesem abgelegenen tropisch-fruchtbaren Paradies nach wie vor möglich - als Alternative zur westlichen Lebensweise. Der Jugend aber wurden die alten Kenntnisse der Fischerei, der Navigation und des Landbaus nicht vermittelt. Vom ökologischen Umgang mit den eigenen wenigen Ressourcen ganz zu schweigen. Nachhaltigkeit ist hier in Französisch-Polynesien ein Fremdwort.
Fast alle Dinge des täglichen Lebens müssen importiert werden – von der Zahnpasta bis zum Kühlschrank oder den Arzneimitteln. Das Fleisch kommt aus Chile, das Gemüse aus Neuseeland, der Wein aus Frankreich. Nur das Bier wird auf Tahiti produziert. "Hinano“ – Prinzessin heißt es. Das Etikett zeigt eine langhaarige, leicht bekleidete Schönheit mit Blumenkranz.