Peaches mit den "Sieben Todsünden"

Die Subkultur ist im Staatstheater angekommen

Louis Stiens und Peaches in rockiger Pose und in lasziver Kleidung.
Sündiges Stuttgart: Louis Stiens und Peaches in einer Szene aus "Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins" © Bernhard Weis/Staatstheater Stuttgart
Von Christian Gampert · 02.02.2019
Hochkultur trifft Underground: Anna-Sophie Mahler inszeniert am Staatstheater Stuttgart eine sehr heutige Interpretation von Bertolt Brechts und Kurt Weills "Sieben Todsünden" – ein deftiges Vergnügen zwischen queerer Subversion und Punk-Performance.
Der Abend zerfällt in drei Teile. Im ersten wird das 1933 im Pariser Exil entstandene und relativ kurze "Ballett mit Gesang" von Kurt Weill und Bertolt Brecht gespielt, allerdings wie eine Konzeptoper: Das Orchester sitzt auf der Bühne um einen Boxring herum, in dem die Protagonistinnen, die beiden Annas, kämpfen. Im zweiten Teil singt die Electroclash-Sängerin Peaches ihre Songs, im dritten blickt eine alte Tänzerin auf ihr Leben – zur Musik von Charles Ives.

Überraschend geradlinig und unpathetisch

Regisseurin Anna-Sophie Mahler hat die Aufführung als Rückblick auf die Geschichte der weiblichen Emanzipation angelegt. Die sowieso schon verdoppelte Hauptfigur, Anna 1 und Anna 2, bekommt eine dritte Figur an die Seite gestellt: die Sängerin Peaches, die die Rolle der Erzählerin übernimmt.
Peaches in einer typischen Konzertpose 
Geradlinige Performance: Josephine Köhler, Peaches und Louis Stiens.© Bernhard Weis/Staatstheater Stuttgart
Ihre Partie singt Peaches überraschend geradlinig und unpathetisch. Sie ist nicht gerade Lotte Lenya, aber sie macht das sehr cool und straight. Drinnen im Boxring tänzeln (das Ganze ist ja ein Ballett) die beiden Annas, die sich mit typisch weiblicher Arbeit "ein kleines Haus in Louisiana" verdienen wollen, so der Lebenstraum. Ihre rein männlich besetzte Familie sind Box-Schiedsrichter, vier Sänger, die sarkastisch kommentierend eingreifen.

Brecht und Weill nur angedeutet

Das Stück ist schon bei Brecht und Weill eine Parodie und Groteske: Die naive Anna und ihre ökonomisch etwas gewieftere Schwester Anna 2 werden im (übrigens nur zwölfseitigen!) Original auf eine Reise geschickt, die durch verschiedene Cabarets und durch die Betten mehr oder weniger reicher Männer und Gigolos führt.
In Stuttgart ist nun von den "Sieben Todsünden", die dabei abgehandelt werden, nicht mehr viel übrig geblieben. Auch die Handlung von Brecht und Weill wird nur angedeutet. Im Grunde geht um den Kampf einer Frau mit sich selbst und um ein selbstbestimmtes Leben – die Figur ist in zwei Personen aufgespalten, die Schauspielerin Josephine Köhler und den Tänzer Louis Stiens, der auch choreografiert hat.
Josephine Köhler mit Boxhandschuhen in kämpferischer Pose vor einem Boxring.
Boxen, ein tänzerischer Sport: Josephine Köhler in "Die sieben Todsünden / Seven Heavenly Sins"© Bernhard Weis/Staatstheater Stuttgart
Das Schöne ist, dass man an diesen kämpferischen Darbietungen sieht, was für ein enorm tänzerischer Sport das Boxen ist – oder sein kann. Der Nachteil ist, dass dieses Konzept sich bald verbraucht – und die kaum vorhandene Handlung vom manchmal streng, manchmal auch leicht hollywoodesk spielenden Staatsorchester Stuttgart (unter Stefan Schreiber) aufgefangen werden muss.

Die "Proletin der Weiblichkeit" wird beschworen

Als Scharnier zum Peaches-Konzert gibt es dann einen Text der französischen Schriftstellerin Virginie Despentes, in dem die sexuell und ökonomisch unangepasste Frau, die "Proletin der Weiblichkeit" beschworen wird.
Portrait von Virginie Despentes mit Zigarette im Mund
Die Schriftstellerin Virginie Despentes.© imago stock&people
Josephine Köhler macht das sehr schön: Sie zitiert identifikatorisch so ziemlich alle Varianten einer modernen Weiblichkeit herbei, die der gängigen Norm widersprechen.

Mit Orgasmen den Kapitalismus überwinden

Danach fahren ganze Batterien von Scheinwerfern neben die Lautsprecherboxen herunter, und es beginnt ein Peaches-Konzert, wie es auch in jedem Club oder Konzerthaus stattfinden könnte. Der Gedanke der Regisseurin ist offenbar, dass der Rückschau auf die (im Brecht-Weill-Modus stattfindenden) Kämpfe um die weibliche Emanzipation nun eine Demonstration heutiger unangepasster Sexualität folgen muss.
Der herbe, punkrockige Rap und Gesang der Protagonistin, mit Electrobeats unterlegt, ist wild und aggressiv, die suggestiven Botschaften sind aber intellektuell eher unterkomplex: "How do you like my cunt?", "Put your dick in the air!" und "Fuck the pain away!" Die Songs sind eine Aufforderung zum lesbisch-sexuellen Aufruhr, der angeblich das kapitalistische System erschüttert.
Kommt einem doch leicht bekannt vor: Schon Wilhelm Reich wollte per Orgasmus den Kapitalismus überwinden. Hat nicht ganz geklappt, das System steht noch relativ stablil.

Die Subkultur im Staatstheater

Die Strategie des Stuttgarter Staatstheaters geht allerdings ganz gut auf: Das an Brecht und Weill angeklebte Peaches-Konzert zieht ein ganz neues Zuschauersegmet ins Theater, die schwul-lesbische Szene, die sich hier nun gut aufgehoben fühlt. Die Subkultur ist im Staatstheater angekommen.
Dann: die sanft schwebende, von dissonanten Einwürfen unterbrochene "unanswered question" des Komponisten Charles Ives. Dazu der melancholische, statische Tanz der – schon bei John Cranko engagierten – bejahrten Balletteuse Melinda Witham. Das ist ein versöhnlicher Abschluss eines Abends, der mit den "Sieben Todsünden", wie wir sie von Breughel und Hieronymus Bosch kennen, nicht viel zu tun hat, dafür sehr viel mit lesbischer Emanzipation und Drum and Bass. Hauptsache sündig! Nun auch in Stuttgart.

Die sieben Todsünden/Seven Heavenly Sins
am Staatstheater Stuttgart
nach Bertolt Brecht und Kurt Weill
Regie: Anna-Sophie Mahler, featuring Peaches
weitere Informationen und Spieltermine online

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