Wo die Nationalsozialisten ihre "Wunderwaffe" bauten
In der einstigen "Heeresversuchsanstalt Peenemünde", wo die Nazis ihre vermeintlichen "Wunderwaffen" V1 und V2 bauten, ist heute ein Museum untergebracht. Die Ausstellung räumt auch mit dem Mythos der angeblich politikfernen "Wiege der Raumfahrttechnik" auf.
Der Rundgang beginnt, na klar, mit dem Kauf der Eintrittskarte. Zu erwerben in einem der wenigen erhalten gebliebenen Gebäude, einem dunkelroten Klinkerbau. Der diente einst bei Fliegeralarm als Hochbunker, erklärt Ausstellungschef Philipp Aumann.
"Natürlich ein bedrückendes Gefühl, man ist unter zwei Meter Beton versteckt. Man sieht gleich, worum es geht, dass Peenemünde ein Ort des Krieges ist."
Zugleich war dieses Gebäude die Schaltwarte des Kraftwerkes, das - mit schlesischer Steinkohle befeuert - Strom für die Werkstoffversuchsanstalten, die Raketentestgelände sowie ein Flüssigsauerstoffwerk produzierte.
Peenemünde sei die "Wiege der Weltraumfahrt", meint ein Besucher
An dem von dickem Glas geschützten Original-Schaltpult erklärt ein Besucher aus Leipzig seinen drei Jungs kenntnisreich, wie der Generator funktionierte. Es stellt sich heraus: Rainer Voigt ist nicht zum ersten Mal hier.
"Zweiter Weltkrieg, Technikgeschichte des Zweiten Weltkriegs ist mein Hobby. Und deshalb komme ich regelmäßig hierher, um mir das anzuschauen - so circa alle zwei Jahre. Peenemünde ist die Wiege der Weltraumfahrt an sich. Die ersten Raketen, die überhaupt in den erdnahen Raum eingedrungen sind, sind von hier gestartet worden.
Auch wenn der Zweck kein friedlicher war, sondern um London zu bombardieren, was ja dann auch gemacht wurde mit über tausend Geschossen. Aber trotz alledem ist es 'ne herausragende technische Leistung, die zum Schluss die russische wie die amerikanische Raumfahrt nach vorn gebracht hat. Das hat hier angefangen, und es ist historischer Boden in der Beziehung."
Gedenkstein für sieben entflohene Kriegsgefangene
Der Weg zum riesigen Kraftwerksanbau führt über ein großes Freigelände, vorbei an einem Gedenkstein für jene sieben sowjetischen Kriegsgefangenen, die 1945 in einem entwendeten Flugzeug fliehen konnten. Dahinter steht die sogenannte Walther-Schlitzohr-Schleuder, die die als V1 bekannt gewordene Flugbombe "Fi 103" auf die nötige Geschwindigkeit beschleunigte. Zudem reckt sich – wie zum Start bereit - ein originalgetreu nachgebautes, schwarz-weiß bemaltes "Aggregat 4" in den Himmel. Eine sogenannte V2.
Dann erreichen wir den Eingang des hallenartigen Schalthausanbaus.
"Gehen wir nach oben. Im ersten Obergeschoss geht unsere Dauerausstellung los", sagt Kurator Philipp Aumann. Dabei erwähnt der Historiker, wie sehr die Nachkriegserzählungen der ehemaligen Techniker und Wissenschaftler den Mythos von Peenemünde als Wiege der zivilen Raumfahrttechnik geprägt haben – zumindest im Westen. Wenn sie überhaupt über Peenemünde sprachen oder schrieben, dann vor allem in diesem Sinne:
"'Na, wir hatten doch hier nichts mit Krieg zu tun. Wir hatten hier unser Innovationszentrum. Und dann, als wir das Ding funktionsfähig gekriegt haben und als wir vielleicht sogar die größte technische Innovation des 20. Jahrhunderts geschaffen haben, dann kamen Wehrmacht und vor allem SS daher und haben unsere Erfindung zweckentfremdet und die zur Waffe gemacht'".
Ziel: die deutsche Bevölkerung zum Durchhalten bewegen
Doch hauptverantwortlich für die Heeresversuchsanstalt Peenemünde waren das Waffenheeresamt, das Rüstungsministerium und die Vier-Jahresplan-Behörde der SS. Alle Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure bekleideten militärische Ränge in Wehrmacht oder Schutzstaffel. Der Kriegszweck – unmissverständlich und ab 1943 ergänzt um die Aufgabe, die deutsche Bevölkerung zum Durchhalten zu bewegen.
"Es ging immer stärker um diese Hoffnung: 'Unsere Ingenieure sind so genial, die liefern schon noch was, damit wir diesen Krieg doch noch gewinnen können.' Und der Auftrag an alle war auch ganz klar: 'Baut uns eine Terrorwaffe!' Und nicht irgendwie: 'Baut uns was, womit in Jahrzehnten mal ins Weltall fliegen können.' Und natürlich - wenn wir hier auf diesen Ort wirklich schauen, sehen wir natürlich: Das war ein Militärprojekt hier und sonst nichts."
Auch die Nachkriegsgeschichte ist Thema
Die Ausstellung beginnt mit einem Blick in die raketenbegeisterten 20er-Jahre, als die Menschen vom baldigen Flug zum Mond träumten. Sie endet mit dem vernichtenden Aufprall der in Peenemünde entwickelten sogenannten "Vergeltungswaffen" in belgischen, französischen und englischen Städten. So starben 1944 bei V2-Angriffen auf London 700 Menschen, wie auch diese aus London kommenden Urlauber wissen. Ihnen weniger bekannt, jedenfalls nicht im Detail: Was nach dem Krieg mit den deutschen Technikern und Wissenschaftlern geschah.
Frau: "Ich wusste von Peenemünde, aber nicht, dass es hier ein Museum gibt. Ich bin Raumfahrtingenieurin und interessiert an den Raketen. Wir haben also Glück, dass sich das Museum hier befindet."
Was sie heute dazugelernt haben?
Mann: "Über die - wie soll ich es ausdrücken? - moralische Armseligkeit von Russland und Amerika, indem sie die deutschen Wissenschaftler wie von Braun übernommen und reingewaschen haben."
Tatsächlich waren alle Besatzungsmächte höchst interessiert an dem Raketenwissen der Peenemünder Techniker. 175 von ihnen mussten in die Sowjetunion übersiedeln und dort die V2 nachbauen. Doch vor allem die Amerikaner griffen sich die Anlagen, Konstruktionspläne und Fachleute wie Generalmajor Walter Dornberger, den Peenemünder Projektleiter, und Wernher von Braun, Chefentwickler und eben noch SS-Sturmbannführer. Damit sie in die USA einreisen und dort fortan für Rüstungsprojekte wie auch für das zivile Mondlandeprogramm arbeiten konnten, säuberte das US-Militär deren Biografien von Nazi-Verstrickungen und half dabei, zumindest im Westen den Mythos von Peenemünde als politik- und kriegsferne Wiege der Raumfahrttechnik zu verfestigen.
Gegen ein verzerrtes Geschichtsbild angehen
Ein verzerrtes Bild, gegen das Kurator Philipp Aumann mit einem überarbeiteten Ausstellungskonzept angehen will. Dafür soll die weitläufige Denkmallandschaft der Heeresversuchsanstalt Peenemünde mit ihren Test-, Fertigungs- und Schießanlagen, mit den KZ-Außenstellen wie auch den Werkswohnungen besser zugänglich gemacht werden, denn:
"Die wichtigsten Exponate, die wir haben, sind draußen im Wald, am Straßenrand. Die Ruinen, Mauerreste, Fundamente, die es noch gibt. An sich kann man darüber am besten die Geschichte Peenemündes, dieses Rüstungsstandortes, ganz buchstäblich erfahren."