Poesie
© Verbrecher Verlag
Auf der Suche nach Heimat
PEN Berlin und The Poetry Projekt
Sei neben mir und sieh, was mir geschehen istVerbrecher Verlag, Berlin 2024240 Seiten
20,00 Euro
Eine Anthologie versammelt Texte von jungen geflüchteten Menschen, die sich in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Sie reflektieren, was es bedeutet, sich in einer neuen Sprache zurechtzufinden oder auf der Suche nach einem Heimatgefühl zu sein.
„Welche Geschichten tragen die Menschen im Gepäck, die aus Asien, der Arabischen Welt und Osteuropa nach Deutschland kommen?“ Mit dieser und weiteren Fragen beschäftigen sich die 32 jungen Autor:innen in „Sei neben mir und sieh, was mir geschehen ist“ und das auf Arabisch, Kurdisch/Kurmandschi, Persisch und Ukrainisch.
In teils kurzen Gedichten oder längeren essayistischen Schilderungen erzählen sie von ihrer Flucht, dem neuen Alltag in Deutschland, dem Vermissen der Heimat, der Trauer und ihrer Wut gegenüber den Verhältnissen. Eine von ihnen ist die 22-jährige Autorin Rojin Namer, die als Kind zusammen mit ihrem Cousin aus Damaskus floh, um nach Deutschland zu kommen.
In „Reflexion einer Heuchelei“ verhandelt sie die deutsche Doppelmoral in Bezug auf Geflüchtete, Rassismus und aktuelles Kriegsgeschehen:
„Deutschland, du bist nicht das, was du vorgibst zu sein,
Solange unser Freund und Helfer die Hand über jene hält,
die uns nach dem Leben trachten,
Während Eltern in Hanau noch das Blut ihrer Kinder in die Nase steigt.“
Solange unser Freund und Helfer die Hand über jene hält,
die uns nach dem Leben trachten,
Während Eltern in Hanau noch das Blut ihrer Kinder in die Nase steigt.“
2019 wurde Rojin Namer mit dem THEO ausgezeichnet, dem Berlin-Brandenburgischen Preis für junge Literatur, zweimal in Folge gewann sie auch den Bundeswettbewerb für junge Literatur, Lyrix.
Kurdischer Autor erzählt von doppelter Heimatlosigkeit
Von seiner doppelten Heimatlosigkeit erzählt der Autor und Journalist Bahadȋn Akhan, der ursprünglich aus der kurdischen Stadt Muş kommt, die offiziell in der Osttürkei liegt.
Als staatenlose Person, die seine Muttersprache in der Türkei nicht sprechen durfte, studierte er zunächst Kurdologie in Nordkurdistan, bis er wegen staatlichen Repressionen die Türkei verlassen musste und seit 2023 in Berlin lebt:
„Nun, im Herzen der Fremde,
las ich bis zur letzten Seite die Wörterbücher vieler Sprachen
und verharre doch im Traum der kurdischen, meiner ersten Sprache,
bewahre so das Gedächtnis der Zeit
…
Ich, Erbe der Hexensprache,
lasse mich nieder in dieser Zeit“
las ich bis zur letzten Seite die Wörterbücher vieler Sprachen
und verharre doch im Traum der kurdischen, meiner ersten Sprache,
bewahre so das Gedächtnis der Zeit
…
Ich, Erbe der Hexensprache,
lasse mich nieder in dieser Zeit“
Ukrainische Autorin beschreibt sprachliche Zerrissenheit
Von einer sprachlichen Zerrissenheit erzählt auch die ukrainische Autorin Anastasiia Dunaieva, die seit der russischen Invasion in der Ukraine in Deutschland lebt.
In ihrer autobiografischen Erzählung „Die Sprache ein Konflikt“ schildert sie eine Zugfahrt von Berlin nach Nürnberg, wo sie Freunde aus der Ukraine treffen möchte. Auf ihrer Fahrt reflektiert sie im Gespräch mit einer Fremden über ihr Verhältnis zu ihrer Muttersprache Russisch, „Und was stört Sie daran“, will die Frau wissen.
„(...) Dass alle meine Gedanken auf Russisch waren und ich jetzt in einer anderen Sprache denken und reden muss, sonst bin ich keine richtige Ukrainerin, heißt es. Obwohl ich überhaupt nicht verstehe, wie meine Staatsangehörigkeit im Konflikt mit meiner Sprache stehen kann. Warum kann ich nicht einfach so sein, wie ich bin?“
Jenseits von ideologisch geführten Diskussionen
Intim wie poetisch sind auch die Texte von Mahdi Hashemi. Der heute 24-Jährige musste als Säugling mit seiner Familie aus Afghanistan in den Iran fliehen, den er wiederum im Alter von 15 Jahren alleine verließ. In „Fremder in der Heimat“ erzählt er von einer Depression, in die er in Deutschland verfällt.
Er macht sich auf den Weg in den Iran, um nach sechs Jahren seine Familie das erste Mal zu besuchen, und muss feststellen, dass sie sich fremd geworden sind, „Nun war ich bei ihnen, meiner Mutter, meinem Vater, meinem Bruder, aber ich wollte nur allein sein und weinen. Meine Seele blieb verloren.“
Seit 2015 arbeitet das Berliner The Poetry Project mit jungen geflüchteten Menschen zusammen. Die Texte dieser Anthologie sind in Schreibworkshops unter der Leitung von erfahrenen Literaturkurateur:innen aus den jeweiligen Kulturräumen wie der kurdischen Schriftstellerin Meral Şimşek entstanden. Die ebenfalls Einblick in ihre Workshoparbeit und die eigenen Biografien geben.
Auch finden sich Interviews mit den Organisator:innen sowie Übersetzer:innen wieder, in denen sie auf kulturelle Besonderheiten und Umstände der jungen Menschen eingehen. So ergibt sich ein vielstimmiges Porträt, das ganz unterschiedliche Erfahrungswelten nebeneinanderstellt, ohne diese zu bewerten.
Eine Anthologie auf Augenhöhe, jenseits von ideologisch geführten Diskussionen, hinter denen die Lebensrealität der Menschen oft verschwindet.