100 Jahre PEN Deutschland

Wie politisch darf die Schriftstellervereinigung sein?

Die Illustration zeigt eine Faust, die einen Bleistift in die Luft reckt.
Schreiben und Politik - und wie viel von was? Heinrich Böll, Anfang der 1970er-Jahre PEN-Vorsitzender, interpretierte die PEN-Charta politisch. Gegner traten aus. © imago / fStop Images / Malte Müller
Die Schriftstellervereinigung PEN setzt sich für die Freiheit des Wortes ein. Die Frage, wie viel Politik dabei erlaubt ist, war immer präsent. Beim PEN in Deutschland führte die Frage nach den Grenzen der Meinungsfreiheit sogar zur Spaltung.
Wie soll der PEN es mit der Politik halten? Diese Frage begleitet die Schriftstellervereinigung seit ihren Anfängen. 1921 wurde das erste Zentrum in London gegründet, 1924 folgte dann der deutsche Verein. Spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde klar:
Unpolitisch konnte der PEN nicht sein. Beim Kongress trafen glühende Nazi-Gegner auf die gleichgeschaltete deutsche Delegation – ein Exil-PEN entstand. Die Frage nach der Politik zog sich für den PEN durch den Kalten Krieg und die Wiedervereinigung – und ist bis heute aktuell.
Der PEN sieht sich als Anwalt des freien Wortes sowie als Stimme verfolgter und unterdrückter Schriftsteller. Doch die Frage, wie weit Meinungsfreiheit geht, stellte sich beim PEN in Deutschland bereits zum wiederholten Mal. Sie führte zu einer Abspaltung – und jüngst erneut zu Austritten.
Das deutsche PEN-Zentrum, das 1924 gegründet wurde, feiert nun sein 100-jähriges Bestehen.

Welche Rolle spielte Politik in der Geschichte des deutschen PEN?

Das deutsche PEN-Zentrum wurde am 15. Dezember 1924 gegründet. Rund drei Jahre zuvor, am 5. Oktober 1921, war das erste PEN-Zentrum in London ins Leben gerufen worden – durch die Schriftstellerin Catherine Amy Dawson-Scott. Sie wollte einen internationalen Club schaffen, der – nach den Feindschaften, die infolge des Ersten Weltkriegs entstanden waren – die Völkerverständigung voranbringen sollte.
Zwar hatte der erste PEN-Präsident John Galsworthy dafür die Linie ausgegeben, der PEN müsse unpolitisch sein. Doch das war spätestens 1933 unrealistisch. Der deutsche Emigrant Ernst Toller hielt beim PEN-Kongress auf Sizilien eine flammende Rede gegen die Nazis. Unter anderem die gleichgeschaltete deutsche Delegation verließ aus Protest den Saal.

Exil-PEN in London gegründet

Ein Jahr später gründete sich in London der deutsche Exil-PEN – der noch immer existiert. „Die haben dann versucht, Schriftsteller freizubekommen, sie auf sicheren Transitwegen ins Ausland zu schaffen“, sagte Johano Strasser, von 2002 bis 2013 Präsident des deutschen PEN-Zentrums. „Von da ab ist der deutsche PEN und der internationale PEN nie mehr unpolitisch gewesen, das war ein Erweckungserlebnis.“
Auch beim PEN Deutschland spielte Politik nach den Worten des aktuellen Generalsekretärs des PEN Deutschland, Michael Landgraf, von Beginn an eine Rolle. Ein Hauptmotiv für die Gründung des deutschen PEN-Zentrums sei gewesen, die Isolation Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg zu überwinden. Prominente Literaten wie Bertolt Brecht, Alfred Döblin oder Kurt Tucholsky kritisierten indes scharf die konservative Ausrichtung des deutschen PEN – und wurden erst 1926 Mitglied.

Aufgelöst von den Nazis

1934 wurde der PEN unter den Nationalsozialisten aufgelöst. 1948 gründete er sich erneut, spaltete sich in eine Ost- und einen West-Verein.
Auseinandersetzungen um Politik blieben beim PEN präsent. Auch Heinrich Böll, ab 1971 Präsident des Internationalen PEN, interpretierte die PEN-Charta politisch:

„Ich glaube, wenn man sich die Charta anguckt, entdeckt man kaum literarische Anleitungen oder die Aufforderung zu literarischen Gesprächen. Die Charta verpflichtet jedes Mitglied, gegen Zensur, gegen Rassenhass, gegen Nationalismus aufzutreten, und ich sehe darin fast rein politische Aufgaben.“

Heinrich Böll, Präsident von PEN International (1971-74)

Gegner dieser stärkeren Politisierung wie Otfried Preußler verließen die Vereinigung. Die Wiedervereinigung der Ost- und West-Vereine gelang erst nach jahrelangem Ringen 1998.

Welche politischen Auseinandersetzungen wurden beim PEN in Deutschland zuletzt publik?

Im Frühjahr 2022 kam es unter anderem aufgrund politischer Fragen zur Spaltung der Schriftstellervereinigung in Deutschland.
Der damalige Präsident Deniz Yücel hatte auf einem Podium des Kölner Literaturfestivals Lit.Cologne Mitte März 2022 – wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine – eine Flugverbotszone über der Ukraine gefordert. Fünf seiner Amtsvorgänger wollten daraufhin, dass er zurücktritt – mit der Begründung: Yücel habe die Befugnisse seines Amtes überschritten und gegen die PEN-Charta verstoßen.
Zudem gab es aus dem Verein Kritik an Yücels Führungsstil. Über Medien wurde eine Schlammschlacht ausgetragen.

2022 trat Yücel als PEN-Präsident zurück

Auf der Jahrestagung des PEN-Zentrums Deutschland im Mai 2022 in Gotha kam es schließlich zum Knall: Yücel trat als Präsident zurück und aus dem Verein aus - und das mit markigen Worten. Unter anderem nannte er den Verein eine „Bratwurstbude“ mit „einer Mehrheit von lauter selbstbezogenen, kleinen Wichtigtuern“.
Yücel war erst im Oktober 2021 zum Präsidenten des PEN-Zentrums Deutschland mit Sitz in Darmstadt gewählt worden und stand mit seiner Biografie für eines der Ideale des PEN, nämlich verfolgten Schriftstellern zu helfen. Er selbst hatte ein Jahr lang in der Türkei zum Teil in strenger Einzelhaft im Gefängnis gesessen – wegen angeblicher „Terrorpropaganda“.

Gründung von PEN Berlin

Im Juni gründet er zusammen mit Autorinnen und Autoren wie Eva Menasse, Daniel Kehlmann und Wladimir Kaminer einen neuen PEN in Deutschland: den PEN Berlin. Ende 2023 hatte der Verein nach eigener Auskunft etwa 650 Mitglieder. Seit Herbst 2023 ist er Mitglied des internationalen PEN-Verbands.
Diese neue PEN-Vereinigung sollte anders sein, als das PEN-Zentrum Deutschland. PEN Berlin setzte sich zum Ziel, gesellschaftliche Debatten anzuschieben, für die Meinungsfreiheit einzustehen und konstruktiv zu streiten. Dort sind viele jüngere, aktivistische Autorinnen und Autoren Mitglied.
Ende 2023 kam es dann innerhalb des PEN Berlin zu heftigen Konflikten und schließlich zu mehreren Austritten. Es ging – nach dem Terrorangriff der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung am 7. Oktober 2023 und angesichts des israelischen Vorgehens im Gazastreifen – um die Haltung gegenüber Israel. Co-Sprecher Deniz Yücel betonte, man lege beim PEN Berlin Wert auf Diversität, auch in politischer Hinsicht.

Wie engagiert sich der PEN Deutschland konkret politisch?

Gehörte anfangs der Völkerfrieden zu den wichtigsten Prioritäten des PEN, rückte während des Kalten Kriegs die Verhältnisse innerhalb der Staaten in den Blick, so der ehemalige PEN-Deutschland-Präsidenten Johano Strasser. Beispielsweise in der Sowjetunion und in Entwicklungsländern mit autoritären Regimen. Es ging zunehmend darum, Schriftstellern und anderen Verfolgten zu helfen.
Eines der Programme des internationalen PEN, an dem sich PEN-Zentrum Deutschland aktiv beteiligt, ist das Writers-in-Prison-Committee (WIP) zur Unterstützung verfolgter Schriftsteller, Verleger, Redakteure, Illustratoren, Blogger und Journalisten. Der Beauftragte für das deutsche WiP-Programm ist der irakische Schriftsteller Najem Wali, der selbst in seiner Heimat Verfolgung erlebt hat. Er sagt, das Ehrenamt sei ein Fulltime-Job. „Es brennt überall", so Wali, der Vizepräsident des deutschen PEN-Zentrums.

Hilfe für Schriftsteller im Exil

1999 rief das PEN-Zentrum Deutschland das Programm Writers-in-Exile ins Leben – inklusive Finanzierung durch die Bundeskulturbeauftragte. PEN Deutschland betreut derzeit 15 in ihrem Heimatland bedrohte Kolleginnen und Kollegen.
Versuche, die Meinungsfreiheit einzuschränken, sind zunehmend auch Thema für Autorinnen und Autoren in Deutschland und damit für das deutsche PEN-Zentrum. Bestsellerkrimi-Autor Klaus-Peter Wolf sagte nach der Europawahl im Juni 2024: „Der Rechtsruck erfasst ganz Europa. Das wird ein Angriff auf die Freiheit des Wortes werden.“ Wolf trat bereits vor fünf Jahren wegen Drohungen unter Polizeischutz auf. „Die Angriffe kamen aus der rechten Ecke.“ Die Unterstützung von Kolleginnen und Kollegen des PEN-Zentrums Deutschland habe ihm enorm geholfen.
Bereits 2019 wies das PEN-Zentrum Deutschland daraufhin, dass juristischer Druck aus rechten Kreisen gegen Autorinnen und Autoren bis hin zur Selbstzensur führe. Klagen oder Unterlassungserklärungen beeinträchtigten die Ausübung der Meinungsfreiheit.

Wo geht es für PEN Deutschland hin?

In den vergangenen Jahrzehnten wurde oft kritisiert, der PEN werde als kritische Stimme nicht mehr wahrgenommen. Johano Strasser, bis 2013 PEN-Präsident, erklärte mit Blick auf das Engagement des PEN unter anderem für verfolgte Schriftsteller: „Ein Großteil der Arbeit, die der PEN macht, rutscht unterhalb der Wahrnehmungsschwelle durch. Es ist so viel Kleinkram, von uns aus gesehen Kleinkram – für die Empfänger ist das: alles oder nichts.“
Wohin orientiert sich also zukünftig der nun 100-jährige PEN Deutschland mit seinen laut eigenen Angaben aktuell knapp 750 Mitgliedern?
Man wolle die Bildung von Regionalgruppen vorantreiben, erklärt Michael Landgraf, Generalsekretär des PEN-Zentrums Deutschland - und junge Autorinnen und Autoren in den Blick nehmen: Studierende stellten auf der Jahresversammlung ein Konzept „Young PEN“ vor. Zudem warte eine neue PEN-Vereinigung auf ihre internationale Anerkennung: der 2023 von des Plattdeutschen mächtigen Autorinnen und Autoren gegründete „Niederdeutsch-friesische PEN“.

PEN-Ehrenpräsident Haslinger: stärkere politische Funktion


Der Ehrenpräsident des deutschen PEN-Zentrums, der österreichische Schriftsteller Josef Haslinger, fordert mit Blick etwa auf weltweit zunehmende autoritäre Strukturen und Bestrebungen: Der PEN müsse seine anfängliche Intention, die Völkerverständigung, wieder stärker akzentuieren. „Dann würde der PEN automatisch wieder eine stärkere politische Funktion einnehmen müssen.“
Einrichtungen wie das Writers-in-Prison-Committee und das Writers-in-Exile-Programm seien sehr wichtig.

abr
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