Charles King: Mitternacht in Pera Palace. Die Geburt des modernen Istanbul
Aus dem Amerikanischen von Karl Heinz Siber
Propyläen, Berlin 2015
544 Seiten, 28 Euro
In der Lobby knallten die Sektkorken
Charles King hat mit "Mitternacht in Pera Palace" nicht etwa einen schrille Kriminalroman geschrieben. Das Werk ist vielmehr eine veritable Kulturgeschichte der Türkei - brilliant erklärt und erstklassig recherchiert.
Als am Silvesterabend des Jahres 1925 die Partygäste im Istanbuler Nobelhotel Pera Palace eintrafen, erwartete sie eine besondere Feier. In der Nacht dieses 31. Dezember auf den 1. Januar 1926 wurden in der Türkei nämlich die Uhren auf den europäischen Modus umgestellt. Spätestens als in der Lobby die Sektkorken knallten, begann am Bosporus auch chronometrisch die neue Zeitordnung, die spätestens seit 1923 mit dem Namen Mustafa Kemal Atatürk verknüpft ist.
"Mitternacht im Pera Palace" – der reißerische Titel des Buches von Charles King, Politologe an der Washingtoner Georgetown-University, klingt nach einer Räuberpistole. Doch obwohl es darin von Ganoven, Spionen und Attentätern nur so wimmelt, ist sein Buch kein schriller Kriminalroman, auch nicht die "bezaubernde" Zeitreise, mit der der Verlag das Werk anpreist. Es ist vielmehr eine veritable Kulturgeschichte der Türkei.
In dem titelgebenden Hotel und der Stadt, in der es steht, bildet der Autor wie in einem Brennglas die Phasen einer der großen Umbrüche des 20. Jahrhunderts ab – den Weg der Türkei in die Moderne. Der symbolische Charakter des legendären Hauses wird schon dadurch deutlich, dass es 1892 von der belgischen Compagnie des Wagons-Lits gegründet wurde. Mit deren Zügen fuhr man von Calais bis Istanbul - das Pera schließt das niedergehende Reich des Ostens an den Westen an.
Hält sich mit politischen Wertungen zurück
Kings Buch sprudelt vor Anekdoten über berühmte Istanbul-Reisende von Agatha Christie über Leo Trotzki bis Joseph Goebbels. Wertvoll macht es die Ausflüge in unterbelichtete Kapitel der Modernisierung. Er erzählt von den ersten Miss-Turkey-Wahlen, die die Zeitung "Cumhurriyet" 1929 als Zeichen der Modernisierung seines Landes veranstaltete. Er erzählt vom Aufstieg des Jazz in den Bars rund um das Pera Palace oder wie die Istanbuler Jüdin Roza Eskenazy zur Stimme des Rembetiko, des "ägäischen Blues", wurde. In einem der spannendsten Kapitel schildert King, wie der Istanbuler Jude Chaim Barlas die Flucht der europäischen Juden nach Palästina organisiert.
Auch wenn Kings Buch nur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts behandelt. Es gibt kaum ein Buch der letzten Jahre, das den Ost-West-Zwitter Türkei so brillant zu erklären vermag: Erstklassig recherchiert, packend geschildert und anspruchsvoll interpretiert. Mit politischen Bewertungen hält sich King zurück. Klar wird, dass sein Herz für das multikulturelle Kaleidoskop schlägt, das Istanbul einst prägte. Entsprechend kritisch bewertet er Kemals Revolution, um deren Bestand heute viele fürchten. Denn sie opferte dieses Ideal auf dem Altar der nationalen Homogenität.
Dass das Pera Palace heute einer arabischen Luxushotelkette gehört, ist King nicht entgangen. Was sich erneut symbolisch interpretieren ließe. Am liebsten würde die islamische AK-Partei, die die Türkei derzeit regiert, die Uhren des Landes wieder zurück in die osmanischen Zeiten drehen.