Perfektes Verwirrspiel

Dem Satiremagazin "Titanic" sei es gelungen, der "Süddeutschen Zeitung" ein neues Grass-Gedicht von Günter Grass unterzujubeln - schrieb die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" (FAS) in ihrem Nachrichtenteil. Alle fielen drauf rein - auch der Medienwissenschaftler Jochen Hörisch.
Der Literatur- und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch hat zugegeben, im ersten Moment auch selbst auf den satirischen Artikel der FAS hereingefallen zu sein. Im Deutschlandradio Kultur sagte Hörisch:

"Ich hab' auch diese kleine Schrecksekunde gehabt: Kann das sein, dass die 'Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung' auf einmal 'Titanic'-Qualitäten entwickelt? Und dann braucht man eben eine Zeit herauszufinden, was ist Satire, und was ist Realität?"

Hörisch, der einen Lehrstuhl an der Universität Mannheim bekleidet, sprach im Zusammenhang mit der FAS-Satire von einem "intellektuellen, charmanten Reiz". Dieser habe darin bestanden, dass FAS-Autor Volker Weidermann seine Satire nicht als solche kenntlich gemacht habe und sie stattdessen im Nachrichtenteil der FAS platziert habe. Somit sei das Verwirrspiel perfekt gewesen, denn die Leser seien irritiert gewesen, in welchem "modus dicendi" der Text eigentlich zu lesen sei - "und ich denke, damit hat er einen großen Coup gelandet".

Darüber hinaus wies Hörisch auf eine zweite Bedeutungsebene hin, denn Weidermann habe mit der Vermischung zweier Genres auch Grass aufs Korn genommen. Dieser habe mit seinem Griechenland-Gedicht zwei poetologische Konzepte miteinander vermengt, die nicht zusammenpassen: einerseits das in der klassizistischen Hölderlin-Tradition stehende Konzept des "Priester-Dichters", andererseits das der engagierten politischen Literatur im Sinne Sartres. Indem Weidermann Satire und Nachrichten vermischt habe, sei es ihm gelungen, gerade diesen Mangel des Grass-Gedichts besonders zu betonen:

"Weil es ja deutlich macht, dass Grass eben gerade nicht ein souveränes Spiel mit Genres gemacht hat, sondern eben seinerseits einen Gattungsverstoß gemacht hat, aber eben nicht in ironischer, satirischer Hinsicht, sondern, ich muss das in aller Schärfe sagen, aus Inkompetenz."


Das vollständige Gespräch mit Hörisch können Sie mindestens bis zum 29.11.2012 als MP3-Audio in unserem Audio-on-Demand-Player nachhören.