Hören Sie hier auch die Einschätzung des Publizisten Micha Brumlik:
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Politisches Desaster für den documenta-Leiter
Franco Berardi sorgt für den ersten Skandal bei der documenta 14, kommentiert Ludger Fittkau: Die auf einem Gedicht des italienischen Aktivisten basierende Performance "Auschwitz on the beach" sei ein Tiefschlag für den documenta-Chef Adam Szymczyk.
Der italienische Marxist Berardi hätte seinen von der Hegelschen Dialektik geprägten Marx besser lesen müssen: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen." So schreibt Karl Marx in seinem "achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte".
Fluchtentscheidung trotz schwieriger Umstände
Auf die heutige Flüchtlingsfrage übertragen heißt das: Die Flüchtlinge an den Stränden des Mittelmeeres sind dort aufgrund von Umständen, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben: Bürgerkriege, politisches und soziales Elend in ihren Herkunftsstaaten. Sie sind somit nicht aus freien Stücken auf die Flucht gegangen, aber sie machen trotzdem "ihre eigene Geschichte". Die Flucht ist ihre Entscheidung, so schwierig die Umstände auch immer sein mögen.
Ganz anders war Anfang der 1940er-Jahre die Lage der europäischen Juden, die mit Gewalt in die Gaskammern von Auschwitz gejagt wurden. Sie wurden von einer Maschinerie erfasst, die keinerlei individuelle Entscheidungsfreiheit mehr bot. Der industrialisierte Massenmord des NS-Regimes ist ein historisch singuläres Ereignis. Das KZ Auschwitz war eine Todesfabrik, nicht vergleichbar mit den Flüchtlingslagern am Mittelmeer. Dort sind die Lebensbedingungen oft elendig, aber sie dienen nicht dem bürokratisierten Genozid.
Die Reaktion ist kalkuliert
Deswegen ist es richtig, dass Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) heute die für Donnerstag geplante documenta-Performance "Auschwitz on the beach" als eine "ungeheuerliche Provokation" bezeichnet. Doch ich befürchte, Berardi hat damit die Reaktion, die er haben wollte. Denn Sozialdemokraten oder Liberale nimmt der linksradikale italienische Provokateur ohnehin nicht ernst. Ein Emanuel Macron ist für Berardi genauso wenig wählbar wie eine Marine Le Pen – das hat er kurz vor der französischen Präsidentschaftswahlverkündet- auf einem documenta-Kongress in Kassel.
Es war nicht das einzige Mal, dass Berardi vom documenta-Chef Adam Szymczyk zu einer Veranstaltung der Weltkunstmesse eingeladen wurde, um geschichtsvergessene Theorie-Versatzstücke unter die Leute zu bringen. Schon im Vorfeld der documenta war er deshalb nach Kassel gekommen. Man kann Berardi deshalb mit Fug und Recht als einen Stichwortgeber der documenta 14 bezeichnen. Das macht "Auschwitz on the beach" zu einem Skandal Szymczyks. Nach der vielfach laut gewordenen inhaltlichen Kritik an seinem Ausstellungskonzept kommt nun der geschichtspolitische Tiefschlag für den documenta-Leiter, der doch eine so geschichtsbewusste documenta 14 wollte. Welches Desaster!