Meditieren mit Marina
Die Premiere wartet mit großen Namen auf: Die Künstlerinnen Laurie Anderson und Marina Abramović gehören zu den internationalen Stars bei der ersten Performance-Biennale in Buenos Aires. Der Uruguayer Martín Sastre schafft es dank des Events an einen der heiligsten Orte der Stadt.
Eine New Yorker Geschichtenerzählerin in Buenos Aires. Gestern Abend hypnotisierte Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson das argentinische Publikum mit ihrem jüngsten Werk "The Language of the Future" – einer Sammlung von Liedern und Erzählungen über die zeitgenössische Kultur. Anderson gehört zu den internationalen Stars, die der ersten Performance-Biennale von Buenos Aires jede Menge Glanz verleihen.
"Ich fand es wichtig, beim ersten Mal weltbekannte Künstler einzuladen, damit das Publikum auf das Event aufmerksam wird",
sagt Biennale-Direktorin Graciela Casabé. Eröffnet wurde das Ereignis von der gerne als Grande Dame der Performance-Kunst bezeichneten Serbin Marina Abramović. Mit langen schwarzen Zöpfen und schwarzer Brille verlas die fast 70-Jährige ihr "Manifest des Lebens eines Künstlers":
"Ein Künstler muss die Stille verstehen. Ein Künstler muss in seinem Werk Platz für die Stille schaffen. Die Stille ist wie eine Insel in einem stürmischen Ozean,"
predigte Marina Abramović vor einem Publikum, das andächtig jedem ihrer Worte lauschte. Die 500 Eintrittskarten für den Auftritt Abramovics in Buenos Aires waren in acht Minuten ausverkauft. Das Gebot der Stille beherrschte auch den Workshop, den die Performerin auf der Biennale anbot.
Um dabei sein zu dürfen, standen Hunderte von Kunst- und Performance-Begeisterte drei Stunden und länger im Dauerregen. Drinnen, im Zentrum für Experimentalkunst der Universität San Martín erwartete sie zunächst ein strenges Briefing des Abramović-Teams:
"Schließen Sie Ihre Handys und Kameras ein. Und am besten gehen Sie, bevor Sie den Saal betreten, auf Toilette, denn nach Beginn ist es nicht möglich, raus und wieder reinzugehen."
Meditationsguru statt Performerin
Mit Anti-Lärm-Kopfhörern auf den Ohren tauchten die Besucher dann ab in die Stille, wurden von schwarzgekleideten Assistenten an die Hand genommen, zum langsamen Gehen in Zeitlupen-Tempo angeleitet oder vor bunte Rechtecke an die Wand gesetzt, um den Blick hinein zu versenken. Unversehens wurden sie zum Teil der Performance, fanden sich unter Wolldecken auf Pritschen wieder, oder hochkonzentriert Reiskörner und Linsen zählend. Das Abramović-Team verteilte Streicheleinheiten und so tiefen Augenkontakt, wie er unter Fremden nur selten vorkommt.
"Eine unglaubliche Erfahrung, eine andere Wirklichkeit! Und eine ungewohnte Art<del cite="mailto:Wellinski,%20Patrick%20[X]" datetime="2015-05-10T17:31">,</del> mit Menschen in Kontakt zu treten: sich nur durch Blicke zu verstehen. Pure Empathie!",
sagte ein junger Mann, als er wieder auf der Straße stand – begeistert von der sogenannten Abramović-Methode, hinter der man statt einer Performerin auch einen Meditations-Guru vermuten könnte.
Wenige Tage später: totales Kontrastprogramm. "Under de sí" heißt die Kreation des argentinischen Performance-Künstlers Diego Bianchi und des kolumbianischen Choreografen Luís Garay. Von der Oase der Stille ist das Zentrum für Experimentalkunst zu einem schwindelerregenden, geräuschvollen Labyrinth mutiert.
In der Rolle von des Volksidols Evita
Unzählige Körper mit teils grotesken, teils verstörenden Posen und Bewegungsabläufen bevölkern den Saal. Eine Frau tanzt an einer Stange und fällt immer wieder erschöpft zu Boden, ein Mann mit Perücke küsst lasziv sein Spiegelbild, die Hände zweier Menschen, die auf Handys herumtippen, ragen aus einem Kasten. Es geht offenbar um Verhaltensweisen der heutigen Gesellschaft, um Konsumrausch, Süchte, Selbstzerstörung, Vereinsamung, Exhibitionismus. Viel nackte Haut ist zu sehen, aber "Under de sí" ist eine Performance, die eben unter die Haut geht. Für Direktorin Graciela Casabé ist die neue Biennale von Buenos Aires ein notwendiger Ort für solch aufwendige Produktionen:
"Performances zu inszenieren ist nicht oft möglich, denn diese Kunst lässt sich ja in der Regel nicht verkaufen. Es ist wichtig, dass Künstler, die ihre Performances an die Öffentlichkeit bringen wollen, private oder staatliche Unterstützung erhalten."
Dank der Biennale schaffte es der Uruguayer Martín Sastre an einen der heiligsten Orte Argentiniens: auf den Balkon des Regierungspalastes in Buenos Aires, auf dem Volksidol Evita vor jubelnden Mengen ihre legendären Reden hielt.
Dreihundert Personen meldeten sich an, um vor einem 40er-Jahre-Mikrofon für je eine Minute in die Rolle der berühmten Präsidentengattin zu schlüpfen.
"Ich glaube, Evita Perón hätte gefallen, dass das Volk auf diesem Balkon steht, dem Ort der Macht. Sinn war nicht, dass nur ich als Künstler dort stehe, sondern dass die Besucher sich in Performance verwandeln. So wurden sie die Künstler, wurden sie das Werk."