Perry Anderson: "Hegemonie"

Von Führen und Gefolgschaft

Buchcover vor einer verschwommenen Grafik einer Weltkarte.
Perry Andersons Buch "Hegemonie": "Alle relevanten politischen Varianten des Hegemoniebegriffs." © Suhrkamp / imago / Ikon Images
Von Catherine Newmark |
Der Gebrauch des Begriffs "Hegemonie" änderte sich von der Zeit der Griechen bis in die Zeit nach dem Weltkrieg, wie der britische Historiker Perry Anderson nachzeichnet. Ein kenntnisreiches, theoretisch dichtes und zudem auch sehr lesbares Buch.
Hegemonie, das ist ein Begriff, der seit einigen Jahrzehnten durch die politische Theorie und die öffentliche Rede wabert, oft in linker, gesellschaftskritischer Absicht, die sich nicht zuletzt den grundlegenden Überlegungen des kommunistischen, italienischen Philosophen Antonio Gramsci verdankt.
Ähnlich wie Autorität ist Hegemonie dabei einer dieser schwer fassbaren Begriffe, die etwas aus dem Bereich der Herrschaft zu beschreiben suchen, das sich nicht ganz eindeutig nur als Macht oder Gewalt beschreiben lässt – sondern auch einen vagen Anteil an mitgedachter Überzeugungsarbeit und kulturell etabliertem Einfluss, vielfach auch an freiwilliger Unterordnung, mit sich trägt. Oder, wenn man es kritisch sieht, zumindest versucht, schnöde Vorherrschaft als einvernehmliches Verhältnis von Führen und Gefolgschaft zu beschönigen.

Geschichte eines Begriffs

Wie stark dabei die Definitionen – oder auch unter Vermeidung von Definitionen: die Verwendung – des Begriffes über die Geschichte variierten, zeigt das ungemein kenntnisreiche, theoretisch dichte und doch sehr lesbare Buch des britischen Historikers Perry Anderson.
Den politischen Ursprung findet man im antiken Griechenland, wo Fragen der Vorherrschaft Athens über den griechischen Stadtstaatenbund mit dem Begriff ebenso verhandelt wurden wie später die noch weitaus eindeutigere Machtübernahme Makedoniens in Gesamtgriechenland.
Nach langer Ruhezeit wurde Hegemonie als freundliche Führungsaufgabe dann Mitte des 19. Jahrhunderts von denen aufgegriffen, die bei der Vereinigung Deutschlands Preußen die Rolle des Hegemons anzutragen suchten. Und dafür, wie ein von Anderson zitierter Times-Artikel von 1860 spöttisch bemerkte, war im "Land der Professoren" natürlich ein klassischer griechischer Ausdruck nötig.
Die russischen Revolutionäre um Lenin schließlich übertrugen diese positive Idee einer allen Seiten dienlichen Führungsrolle auf die Arbeiterklasse als Speerspitze des Kampfes gegen den zaristischen Absolutismus. Von wo wiederum Gramsci, mittlerweile in Mussolinis Gefängnissen, ihn aufgriff und zu einer breiteren Sozialtheorie ausarbeitete.
Dieses und viel mehr über die Theoriegeschichte von Hegemonie erfährt man bei Anderson, der alle relevanten politischen Varianten des Hegemoniebegriffs in kurzen Kapiteln erläutert.

Weltordnung seit 1945

Richtig spannend wird das Buch dann bei der Diskussion der Hegemonie-Verhältnisse in der Weltordnung seit 1945 und der sie begleitenden politischen Theorien: das Ringen um globale Hegemonie durch Ost- und Westblock, die "liberale" US-amerikanische politische und kulturelle Hegemonie der letzten Jahrzehnte – aber auch die ungern beim Namen genannte deutsche (wirtschaftliche) Hegemonialrolle in Europa, die Anderson einer entschiedenen Kritik unterzieht. Im Dienste der Selbstverherrlichung bediene sich hier die deutsche Macht eines selbstberäuchernden Pathos.
Etwas frustrierend ist, dass Anderson sein im Original 2017 erschienenes Werk offensichtlich vor der Wahl Donald Trumps geschrieben hat und – wie die meisten – anscheinend nicht damit gerechnet hat. Daher endet seine formulierte harsche Kritik der gegenwärtigen Ausprägung amerikanischer Hegemonialmacht bei Obamas Drohnenkriegen. Was er über Trumps Mischung aus globalpolitischer Kraftprotzerei und isolationistischer "America First"-Rhetorik zu sagen gehabt hätte, hätte man gerne noch gelesen.

Perry Anderson: "Hegemonie. Konjunkturen eines Begriffs"
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp, Berlin 2018
250 Seiten, 18 Euro

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