Persönliche Europakarte
John Berger erzählt in seinem Buch "Hier, wo wir uns begegnen" aus verschiedenen europäischen Städten, an die er persönliche Erinnerungen knüpft. Jeder Ort wird dabei zum Ausgangspunkt einer Zeitreise und der Begegnung mit der eigenen Geschichte, womit Berger eine Arte persönlicher Europakarte entwirft.
Dass die Zeit nicht einfach nur linear vergeht, ist etwas, das John Berger schon in früher Kindheit entdeckte. Da bemerkte er, "dass es in der Zeit Falten gibt, die dafür sorgen, dass manche Dinge gerettet werden können, andere aber nicht." Diese Entdeckung der faltenwerfenden Zeit macht Berger sich in seinem Erinnerungsbuch "Hier, wo wir uns begegnen" zunutze. Es versammelt einzelne Erzählungen, die in verschiedenen europäischen Städten angesiedelt sind. Mit den Stationen Lissabon, Madrid, Genf, London, Krakau und schließlich einem Dorf in der polnischen Provinz entsteht eine persönliche Europakarte jenseits aller politischer Grenzen und Gegensätze.
Doch jeder geographische Ort ist zugleich Ausgangspunkt einer Zeitreise und der Begegnung mit der eigenen Geschichte. In Lissabon tritt plötzlich die vor zehn Jahre gestorbene Mutter des Erzählers auf, hängt sich selbstverständlich bei ihm ein und beginnt ein entspanntes Gespräch.
In Krakau sitzt ein alter Freund und Lehrer auf dem Marktplatz im jüdischen Viertel Kazimierz. In Genf besucht Berger zusammen mit der Tochter Katya das Grab von Jorge Luis Borges, und im Londoner Stadtteil Islington erinnert er sich an ein Mädchen, das mit ihm die Kunsthochschule besuchte. Während der Bombennächte des II. Weltkrieges lagen sie gemeinsam in einem Bett und erkundeten ihre Körper, um sich am Tag dann möglichst aus dem Weg zu gehen. "Wo immer sich unsere Haut berührte, gab es das Versprechen auf einen Horizont", schreibt Berger über diese seltsam distanzierte Nähebeziehung.
Räume, Entfernungen und immer wieder die Falten in der Zeit sind das große Thema dieser Fragmente einer poetischen Biographie. John Berger, 1926 in London geboren, begann nach dem Kunststudium als Maler, wechselte dann als Kunstkritiker und Essayist in den Journalismus. Der genau Blick, das Sinnliche und Dingliche seiner Prosa lässt diese Herkunft immer noch erkennen. Wenn er einen Fischmarkt in Lissabon beschreibt oder die 20.000 Jahre alten Höhlenbilder im französischen Le Pont d'Arc, dann ist seine Prosa reine Anschauung. Die Genauigkeit, mit der er die Einzelheiten registriert ohne dabei buchhalterisch oder gar dozierend zu wirken, ist immer wieder beeindruckend.
Im Zentrum des Buches stehen - wie ein Stilleben - fünf kurze, leuchtend schöne Abschnitte über "Früchte, an die sich die Toten erinnern". Allein für diese üppige Feier des Lebens lohnt sich die Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches.
Bergers Blick ist geprägt von der Sympathie für das, was ist. Seine Prosa ist eine einzige Lebensbejahung, ohne dabei die Augen vor den Abgründen des Daseins zu verschließen. Der Buchumschlag, der eine Zeichnung von John Berger zeigt, deutet diese Haltung an. Es ist ein aus wenigen Strichen gefügtes Gesicht, dessen Mund aus einem krausen Strich und dem Wort "yes" besteht. Bergers lebensbejahende Kraft ist so stark und so selbstverständlich, dass auch die Toten sich in seiner Prosa ganz zwanglos bewegen können und sich kaum von den Lebenden unterscheiden. So lange es Menschen und ihre Erinnerungen gibt, ist der Tod gewiss nicht das Ende.
Das Einfache ist bei Berger Programm. Seit den 70er Jahren lebt er, einst überzeugter Marxist, in einem Bergdorf der Savoyer Alpen. Das Dasein der Bauern hat er in den 80er Jahren in der Trilogie "Von ihrer Hände Arbeit" beschrieben - eine Huldigung des ländlichen Lebens und Überlebens, die in ihrer nüchternen Eleganz der Gefahr widerstand, in folkloristischen Kitsch abzudriften. Als leidenschaftlicher Motorradfahrer hat Berger von hier aus immer wieder ausgedehnte Reisen unternommen, die sich nun zur Topographie der Erinnerungen, der Lebenden und der Toten fügen.
Weil zeitliche Distanzen keine Rolle spielen, sind Berger und seiner Kunst die Höhlenbilder von Le Pont d'Arc so nah. Die Tiere, die er an den Wänden einer jahrtausendelang von der Umwelt abgeschlossenen Gruft entdeckt, führen ihn zu den Anfängen aller Kunst:
"Es scheint, als wäre die Kunst auf die Welt gekommen wie ein Fohlen, das von Geburt aus auf den Beinen steht. Die Begabung, Kunst zu schaffen, geht mit dem Wunsch nach ihr einher; sie treffen zusammen ein."
Berger ist im November 80 Jahre alt geworden. Er ist jung geblieben, weil er das Staunen nicht verlernt hat. Mystizismus und Materialismus, reine Ästhetik und Interesse für die soziale Wirklichkeit gehen bei ihm so selbstverständlich zusammen, als hätte es nie ideologische Kämpfe darum gegeben. Diese Offenheit macht die schlichte Schönheit seiner Sprache erst möglich.
Rezensiert von Jörg Magenau
John Berger: Hier, wo wir uns begegnen
Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes
Hanser Verlag, München 2006
224 Seiten, 17,90 Euro
Doch jeder geographische Ort ist zugleich Ausgangspunkt einer Zeitreise und der Begegnung mit der eigenen Geschichte. In Lissabon tritt plötzlich die vor zehn Jahre gestorbene Mutter des Erzählers auf, hängt sich selbstverständlich bei ihm ein und beginnt ein entspanntes Gespräch.
In Krakau sitzt ein alter Freund und Lehrer auf dem Marktplatz im jüdischen Viertel Kazimierz. In Genf besucht Berger zusammen mit der Tochter Katya das Grab von Jorge Luis Borges, und im Londoner Stadtteil Islington erinnert er sich an ein Mädchen, das mit ihm die Kunsthochschule besuchte. Während der Bombennächte des II. Weltkrieges lagen sie gemeinsam in einem Bett und erkundeten ihre Körper, um sich am Tag dann möglichst aus dem Weg zu gehen. "Wo immer sich unsere Haut berührte, gab es das Versprechen auf einen Horizont", schreibt Berger über diese seltsam distanzierte Nähebeziehung.
Räume, Entfernungen und immer wieder die Falten in der Zeit sind das große Thema dieser Fragmente einer poetischen Biographie. John Berger, 1926 in London geboren, begann nach dem Kunststudium als Maler, wechselte dann als Kunstkritiker und Essayist in den Journalismus. Der genau Blick, das Sinnliche und Dingliche seiner Prosa lässt diese Herkunft immer noch erkennen. Wenn er einen Fischmarkt in Lissabon beschreibt oder die 20.000 Jahre alten Höhlenbilder im französischen Le Pont d'Arc, dann ist seine Prosa reine Anschauung. Die Genauigkeit, mit der er die Einzelheiten registriert ohne dabei buchhalterisch oder gar dozierend zu wirken, ist immer wieder beeindruckend.
Im Zentrum des Buches stehen - wie ein Stilleben - fünf kurze, leuchtend schöne Abschnitte über "Früchte, an die sich die Toten erinnern". Allein für diese üppige Feier des Lebens lohnt sich die Lektüre dieses außergewöhnlichen Buches.
Bergers Blick ist geprägt von der Sympathie für das, was ist. Seine Prosa ist eine einzige Lebensbejahung, ohne dabei die Augen vor den Abgründen des Daseins zu verschließen. Der Buchumschlag, der eine Zeichnung von John Berger zeigt, deutet diese Haltung an. Es ist ein aus wenigen Strichen gefügtes Gesicht, dessen Mund aus einem krausen Strich und dem Wort "yes" besteht. Bergers lebensbejahende Kraft ist so stark und so selbstverständlich, dass auch die Toten sich in seiner Prosa ganz zwanglos bewegen können und sich kaum von den Lebenden unterscheiden. So lange es Menschen und ihre Erinnerungen gibt, ist der Tod gewiss nicht das Ende.
Das Einfache ist bei Berger Programm. Seit den 70er Jahren lebt er, einst überzeugter Marxist, in einem Bergdorf der Savoyer Alpen. Das Dasein der Bauern hat er in den 80er Jahren in der Trilogie "Von ihrer Hände Arbeit" beschrieben - eine Huldigung des ländlichen Lebens und Überlebens, die in ihrer nüchternen Eleganz der Gefahr widerstand, in folkloristischen Kitsch abzudriften. Als leidenschaftlicher Motorradfahrer hat Berger von hier aus immer wieder ausgedehnte Reisen unternommen, die sich nun zur Topographie der Erinnerungen, der Lebenden und der Toten fügen.
Weil zeitliche Distanzen keine Rolle spielen, sind Berger und seiner Kunst die Höhlenbilder von Le Pont d'Arc so nah. Die Tiere, die er an den Wänden einer jahrtausendelang von der Umwelt abgeschlossenen Gruft entdeckt, führen ihn zu den Anfängen aller Kunst:
"Es scheint, als wäre die Kunst auf die Welt gekommen wie ein Fohlen, das von Geburt aus auf den Beinen steht. Die Begabung, Kunst zu schaffen, geht mit dem Wunsch nach ihr einher; sie treffen zusammen ein."
Berger ist im November 80 Jahre alt geworden. Er ist jung geblieben, weil er das Staunen nicht verlernt hat. Mystizismus und Materialismus, reine Ästhetik und Interesse für die soziale Wirklichkeit gehen bei ihm so selbstverständlich zusammen, als hätte es nie ideologische Kämpfe darum gegeben. Diese Offenheit macht die schlichte Schönheit seiner Sprache erst möglich.
Rezensiert von Jörg Magenau
John Berger: Hier, wo wir uns begegnen
Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes
Hanser Verlag, München 2006
224 Seiten, 17,90 Euro