Perspektiven eines Dichter-Genies
Vor 200 Jahren nahm sich Heinrich von Kleist am Berliner Wannsee das Leben. Sein mysteriöser Selbstmord hat die Biografen seither zu düsteren Deutungen inspiriert. Günter Blamberger hingegen will den Dichter ausdrücklich nicht von seinem Ende her verstehen.
Am 21. November 1811 bitten Heinrich von Kleist und Henriette Vogel die Angestellten eines Gasthofs am Wannsee, einen Tisch, Stühle und Kaffee auf einen am Ufer gelegenen Hügel zu bringen. Dem Personal kommt der Wunsch etwas abwegig vor, denn es ist Winter, doch er wird erfüllt. Wie aus dem Vernehmungsprotokoll eines Angestellten zu erfahren ist, waren beide in äußerst vergnügter Stimmung, was merkwürdig klingt, denn wenige Stunden später wird das "schäkernde und sich jagende" Paar tot aufgefunden. Kleist schoss Henriette ins Herz und sich selbst in den Mund. Er stirbt mit 34 Jahren.
Wegen dieses rätselhaften Todes haben ganze Generationen von Kleist-Biografen, so ist aus Blambergers gut geschriebener und äußerst interessant zu lesender Kleist-Monografie zu erfahren, das Leben des Dichters im "Nachhinein unter Melancholieverdacht" gestellt. In der Folge wurden seine Texte als "Dokumente des Leides" dargestellt. Von solchen Deutungen will sich Blambergers Biografie unterscheiden. Er versteht Kleist nicht von seinem Ende her, sondern er verfolgt die Entwicklung des im Oktober 1777 in Frankfurt/Oder geborenen Dichters von seinen Anfängen, das heißt er diskutiert die möglichen Perspektiven, die Kleist hatte.
Kleist wird im Alter von 15 Jahren zunächst Offizier, was in der Familie üblich ist – zwischen 1640 und 1892 stellen die Kleists 23 preußische Generäle. Doch 1799 quittiert er den Armeedienst und wendet sich den Wissenschaften zu. Es ist der Versuch, seinem Leben ein Ziel zu geben, denn er will, wie er an seine Schwester Ulrike schreibt, "keine Puppe am Drathe des Schicksaals" sein. Aber bereits im Sommer 1800 verlässt er die Universität. Ständig wechseln seine Lebenspläne. Er kann sich nicht entscheiden, ob er Bauer, Familienvater, Beamter, Industriespion, Buchhändler oder Redakteur werden soll. Stattdessen entwickelt er kühne Ideen und Projekte. Mit seinem Freund Ernst von Pfuehl entwirft er 1805 ein Tauchboot und er schlägt die Einführung einer Wurf- oder Bombenpost vor.
Für die Literatur ist es ein Glück, dass sich Kleist entschließt, Schriftsteller zu werden. Aber, so fragt Blamberger zu recht, wie "nähert man sich als Nicht-Genie einem Genie auf angemessene Weise an, worüber kann man wissenschaftlich überhaupt verlässlich reden, wenn es um dichterische Kreativität geht?" Für die Beantwortung der Frage bezieht er sich auf Kleists Aufsatz "Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden" (1805/06). Kleist kehrt in dem Aufsatz die Grundannahme der Rhetorik um, denn seiner Meinung nach muss nicht erst gedacht und dann geredet werden, sondern die Gedanken entwickeln sich allmählich beim Reden.
Für Kleist, so Blambergers These, ist "Aggression der Motor", der die schöpferische Kreativität antreibt. Sie wendet sich gegen einen Widersacher, der real oder symbolisch eine Institution verkörpert, die "die Selbstentfaltung des Einzelnen" begrenzt. In der vierten Fallgeschichte seines Aufsatzes sucht der Löwe einen Schuldigen für das Ausbrechen der Pest. Er findet ihn im Fuchs. Der Beschuldigte, der weiß, dass die Sache ernst ist, rettet seinen Kopf mit einer listigen Rede, wobei ihm ein Geistesblitz hilft. Um von sich abzulenken, macht er im Esel einen neuen Todeskandidaten aus.
Blamberger zeigt das Beunruhigende an Kleists Leben und das "Staunenswerte" an seinem Werk. Er hat das Kunststück fertig gebracht, eine Kleist-Biografie zu schreiben, in der das Leben des Dichters mit großer Sachkenntnis in dessen Jahrhundert entfaltet wird. Man liest dieses Buch mit Freude – denn Blamberger versteht es, seine Leser für den Gegenstand zu begeistern – und mit Gewinn, da er sicher ist im ästhetischen Urteil und zu veranschaulichen vermag, was Kleists dichterische Originalität ausmacht.
Besprochen von Michael Opitz
Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biografie
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
597 Seiten, 24,95 Euro
Wegen dieses rätselhaften Todes haben ganze Generationen von Kleist-Biografen, so ist aus Blambergers gut geschriebener und äußerst interessant zu lesender Kleist-Monografie zu erfahren, das Leben des Dichters im "Nachhinein unter Melancholieverdacht" gestellt. In der Folge wurden seine Texte als "Dokumente des Leides" dargestellt. Von solchen Deutungen will sich Blambergers Biografie unterscheiden. Er versteht Kleist nicht von seinem Ende her, sondern er verfolgt die Entwicklung des im Oktober 1777 in Frankfurt/Oder geborenen Dichters von seinen Anfängen, das heißt er diskutiert die möglichen Perspektiven, die Kleist hatte.
Kleist wird im Alter von 15 Jahren zunächst Offizier, was in der Familie üblich ist – zwischen 1640 und 1892 stellen die Kleists 23 preußische Generäle. Doch 1799 quittiert er den Armeedienst und wendet sich den Wissenschaften zu. Es ist der Versuch, seinem Leben ein Ziel zu geben, denn er will, wie er an seine Schwester Ulrike schreibt, "keine Puppe am Drathe des Schicksaals" sein. Aber bereits im Sommer 1800 verlässt er die Universität. Ständig wechseln seine Lebenspläne. Er kann sich nicht entscheiden, ob er Bauer, Familienvater, Beamter, Industriespion, Buchhändler oder Redakteur werden soll. Stattdessen entwickelt er kühne Ideen und Projekte. Mit seinem Freund Ernst von Pfuehl entwirft er 1805 ein Tauchboot und er schlägt die Einführung einer Wurf- oder Bombenpost vor.
Für die Literatur ist es ein Glück, dass sich Kleist entschließt, Schriftsteller zu werden. Aber, so fragt Blamberger zu recht, wie "nähert man sich als Nicht-Genie einem Genie auf angemessene Weise an, worüber kann man wissenschaftlich überhaupt verlässlich reden, wenn es um dichterische Kreativität geht?" Für die Beantwortung der Frage bezieht er sich auf Kleists Aufsatz "Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden" (1805/06). Kleist kehrt in dem Aufsatz die Grundannahme der Rhetorik um, denn seiner Meinung nach muss nicht erst gedacht und dann geredet werden, sondern die Gedanken entwickeln sich allmählich beim Reden.
Für Kleist, so Blambergers These, ist "Aggression der Motor", der die schöpferische Kreativität antreibt. Sie wendet sich gegen einen Widersacher, der real oder symbolisch eine Institution verkörpert, die "die Selbstentfaltung des Einzelnen" begrenzt. In der vierten Fallgeschichte seines Aufsatzes sucht der Löwe einen Schuldigen für das Ausbrechen der Pest. Er findet ihn im Fuchs. Der Beschuldigte, der weiß, dass die Sache ernst ist, rettet seinen Kopf mit einer listigen Rede, wobei ihm ein Geistesblitz hilft. Um von sich abzulenken, macht er im Esel einen neuen Todeskandidaten aus.
Blamberger zeigt das Beunruhigende an Kleists Leben und das "Staunenswerte" an seinem Werk. Er hat das Kunststück fertig gebracht, eine Kleist-Biografie zu schreiben, in der das Leben des Dichters mit großer Sachkenntnis in dessen Jahrhundert entfaltet wird. Man liest dieses Buch mit Freude – denn Blamberger versteht es, seine Leser für den Gegenstand zu begeistern – und mit Gewinn, da er sicher ist im ästhetischen Urteil und zu veranschaulichen vermag, was Kleists dichterische Originalität ausmacht.
Besprochen von Michael Opitz
Günter Blamberger: Heinrich von Kleist. Biografie
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011
597 Seiten, 24,95 Euro