Moshe Zimmermann: „Niemals Frieden? Israel am Scheideweg“
© Propyläen Verlag, Berlin 2024 Niemals Frieden? Israel am ScheidewegPropyläen , Berlin 2024
Abgrund und Aufschrei
07:55 Minuten
192 Seiten
16,00 Euro
Moshe Zimmermanns neues Buch ist ein Aufschrei. Verfasst unter dem Eindruck von Hamas-Terror und Gaza-Krieg sieht der Historiker Israel als jüdisch-demokratischen Staat mehr denn je am Abgrund - und das Lebenswerk seiner Generation bedroht.
„Konstruktiver Pessimismus“ – unter diesem Begriff fasst der israelische Historiker Moshe Zimmermann sein eigenes Werk zusammen. Dabei ist die Hierarchie zwischen Adjektiv und Nomen klar gesetzt: Mit diesem Buch läutet Zimmermann alle ihm zur Verfügung stehenden Alarmglocken.
Nie zuvor bekam das deutschlesende Publikum eine dringlichere, prominentere und detailliertere Warnung, Israel stehe als jüdisch-demokratischer Staat am Abgrund.
Dabei präsentiert Zimmermann eine düstere Anklageschrift gegen die israelische Politik der letzten Jahrzehnte, vor der er seit Jahren warnt. Er tut dies mit zunehmender Dringlichkeit und mit der scharfen Analyse als einer der bekanntesten Historiker*innen Israels.
Säkular, liberal, humanistisch
In diesem fast persönlichen Buch – das Pronomen „ich“ kommt darin häufig vor – trauert Zimmermann einer israelischen „Road not taken“ nach, einer liberal-demokratischen Entwicklung im Inneren, und im Äußeren einem kompromissorientieren Weg, dem arabischen Raum und vor allem den Palästinenser*innen gegenüber. Eine Entwicklung, die Zimmermanns eigener Biografie entspricht: säkular, liberal, humanistisch und europäisch geprägt, wenn auch gelegentlich mit anderen Kultursphären fremdelnd.
Zimmermanns düstere Sicht auf das heutige Israel ergibt sich aus den zwei zeitlichen Merkmalen, auf die sich dieses Buch bezieht: Eröffnet wird es mit einem Poem, das über die Pogrome im russischen Zarenreich zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst wurde; das andere Zeitmerkmal bildet das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023.
Das dabei entstehende Fazit: Die – so Zimmermann – messianische, „völkische“ Entgleisung des Zionismus, getrieben von den Verfechtern eines grenzenlosen „Groß-Israel“, von Siedlern und ihren nationalistischen Vertretern in der israelischen Politik, angeführt von Benjamin Netanjahu, ist eine existenzielle Gefahr für Israel, die zur Wiederholung pogromartiger Bilder auf israelischem Boden führte. Zimmermann schreckt dabei nicht vor der brisanten Behauptung zurück, Netanjahu und die Siedlerbewegung trügen eine Mitschuld am Massaker des 7. Oktober.
Die Mutlosigkeit deutscher Bundesregierungen
Dabei ist Zimmermann der deutsche Kontext, in dem dieses Buch gelesen wird, durchaus bewusst. Er erteilt jenen Strömungen, die die Geschichte und Gegenwart Israels durch die Paradigmen des Postkolonialismus lesen, eine klare Absage, verzichtet aber auf eine tiefere Einsicht in die postmigrantische Realität der heutigen deutschen Gesellschaft.
So machten ihn viele Reaktionen von links auf den 7. Oktober „misstrauisch“: Wie auch viele andere progressive Israelis beklagt er, seit dem Terrorangriff der Hamas zwischen antisemitisch motivierter Israelkritik und der rechtsextremen Regierung Israels zerrieben zu werden.
Auch mit der deutschen Politik geht Zimmermann hart ins Gericht: Die inflationäre Verwendung des Antisemitismusbegriffs im innerdeutschen Kontext, um – so Zimmermann – Kritik von Israels Politik abzuwehren, und die Mutlosigkeit deutscher Bundesregierungen ihren israelischen Partnern gegenüber, seien für die Zukunft Israels verheerend: „Da die Sicherheit Israels nur durch eine Konfliktregelung über die Zweistaatenlösung zu gewährleisten ist, und Deutschland resignieren muss, weil es ‚ungeeignet‘ ist, bleibt die Parole ‚Israel ist deutsche Staatsräson‘ ein Bluff, und der Weg in den Abgrund ist frei.“
Dieses Buch ist ein Wehruf, ein in Worten verfasster Aufschrei Zimmermanns, der sieht, wie das Lebenswerk seiner Generation vernichtet wird. Ein Buch, das eine verdichtete Geschichte und alarmierende Bestandsaufnahme Israels und des Konflikts anbietet, mit einem dringlichen Aufruf verbunden, die Zweistaatenregelung unter internationalem Druck zu forcieren. Nicht, weil Zimmermann diese Möglichkeit unbedingt für machbar hält, sondern weil die Alternative das Ende Israels als jüdisch-demokratischer Staat wäre.