Peter Bialobrzeski: "No Buddha in Suburbia"
Hartmann Books, Stuttgart 2020
168 Seiten, 34 Euro
In Mumbai ist kein Gott zu finden
07:50 Minuten
Hochhausskelette, Müllberge, Menschen, die auf der Straße kochen: Der Fotograf Peter Bialobrzeski hat in seinem neuen Bildband die indische Millionenmetropole Mumbai porträtiert – und zeigt eine Realität, die manchmal schwer zu ertragen ist.
Der 1961 in Wolfsburg geborene Fotograf Peter Bialobrzeski scheint von permanenter kreativer Unruhe ergriffen. Wenn der an Bremer und Hamburger Hochschulen lehrende Künstler gerade keine Lehrveranstaltungen abhält, ist er unterwegs nach Kairo und Athen, Taipeh und Beirut. Manchmal wandert er auch durch deutsche Lande und veröffentlicht im Anschluss an seine Reisen Fotobände mit Titeln wie "Heimat" und "Die zweite Heimat". Sein neues Fotobuch heißt "No Buddha in Suburbia".
Bialobrzeski war auf Einladung des Goethe-Instituts eine Zeit lang in Indien, vor allem in Mumbai, das bis 1996 noch offiziell Bombay hieß. Keiner weiß genau, wie viele Einwohner in Mumbai leben: Allein der Innenstadtkern hat mehr als zwölf Millionen Einwohner. Zählt man die Vorstädte, die "Suburbs", dazu, leben mindestens 30 Millionen Menschen in der Metropolregion Mumbai. Diese zählt damit zu den bevölkerungsreichsten und am dichtesten besiedelten Städten der Welt.
Buddha und Siddhartha gibt es nicht mehr
In den beschaulichen Städten Deutschlands kann man sich kaum vorstellen, wie sich das Leben und Überleben in solchen Mega-Citys gestaltet. Aber genau dafür interessiert sich Peter Bialobrzeski: Er streift mit der Fotokamera durch die endlosen Vorstädte von Mumbai, beobachtet das Treiben auf der Straße, zeigt, wie die Menschen leben, wohnen und arbeiten, sich durch das Labyrinth aus Straßen und Autos, Müll und Dreck, Werbeplakaten und kleinen Läden fortbewegen, um sich selbst und ihre Familien zu ernähren und irgendwie zu überleben.
Es gibt kein erklärendes Vor- oder Nachwort von Bialobrzeski, sondern nur ein paar architektonische Bemerkungen eines indischen Städteplaners. Deshalb muss man sich seine eigenen Gedanken machen zu den künstlerischen Absichten und politischen Aussagen des Fotobandes. Aber man liegt wohl richtig, wenn man den Titel als Hinweis darauf versteht, dass es – in Zeiten von Globalisierung, Turbo-Kapitalismus und sozialer Ungleichheit – in den Vorstädten von Mumbai keinen Gott und keinen Buddha mehr zu geben scheint, man nichts mehr finden kann von all dem, wofür wir schwärmten, als wir Hermann Hesses Roman über "Siddhartha" verschlungen haben.
In den Vorstädten von Mumbai findet man keinen Tempel und keine Buddhastatue, kein Anzeichen irgendeiner Spiritualität oder religiösen Kultur und Tradition, kein Buddhismus des Friedens, der Gelassenheit, des asketischen, stillen Glücks. Stattdessen findet Bialobrzeski ein chaotisches Durcheinander von halb verfallenen Gebäuden und nie fertig werdenden Hochhausskeletten, windschiefen Wellblechhütten und Bergen voller Müll; Menschen, die mit dem Motorroller durch die verstopften Straßen knattern, die auf der Straße kochen und schlafen oder die sich, wenn sie etwas mehr Geld und eine halbwegs komfortable Bleibe gefunden haben, in ihren Wohnungen und Häusern verbarrikadieren und ihre Fenster mit Stahlgittern sichern.
Die Fotos zeigen, wohin es führt, wenn sich – in Zeiten des Neoliberalismus – der Staat komplett aus der Verantwortung zurückzieht, keine Idee mehr hat für die Stadt als gewachsene Architektur, als urbanen Raum, in dem Menschen arbeiten und wohnen, sich treffen und wohlfühlen, ein sinnvolles und Sinn stiftendes Leben führen können. Die Fotos zeigen, wie es aussieht, wenn die zur Beute von Investoren wird und jedes Gefühl für Tradition und Kultur, Heimat und Religion abhandengekommen ist.
Abstinenz städtebaulicher Konzepte
Auf einem Bild sieht man eine auf Betonstelen gebaute Schnellstraße, die das Viertel regelrecht zerschneidet, darunter verläuft eine alte, aufgerissene Straße, voller Dreck und Müll und herum liegenden Strom- und Versorgungskabeln. Inmitten des Unrats bereitet eine Frau auf offenem Feuer ihr Essen. Menschen hasten vorbei, das Mobiltelefon immer am Ohr. Die Häuserwände sind mit Werbeplakaten für noble Kleidung bestückt, die sich sowieso keiner leisten kann.
Auf einem anderen Bild erkennt man im Hintergrund einen nagelneuen Hochhausturm aus Stahl und Glas, hier arbeiten und wohnen, von Zäunen und Mauern gut gesichert, die Reichen und Schönen und die Profiteure der Globalisierung. Im Vordergrund eine viel befahrenen Straße, Menschen stehen am Rand und warten auf ein Sammeltaxi, denn es gibt keine öffentlichen Verkehrsmittel. An einer Brandmauer unterhalb des Highways ein mobiler Barbier, der einen Stuhl und ein paar Utensilien auf die Straße gestellt hat und gerade einem die Haare schneidet.
Auf einem Bild erkennt man im Vordergrund und im Hintergrund jeweils Plattenbauten, die nie fertig wurden, aber von unzähligen Menschen als Wohnraum in Beschlag genommen worden sind. Zwischen den baufälligen Behausungen ist eine riesige Freifläche: überall Müll, der nie abgeholt wird, Kinder, die zwischen all dem Dreck Fußball spielen. Es gibt Bilder, auf denen sich Wellblechhütten zu wackligen Bergen auftürmen und jeden Moment zusammen fallen könnten. Bilder, auf denen der Müll die engen Gassen so verstopft, dass kein Durchkommen mehr ist.
Es sind Bilder, die man – von westlicher Demokratie, sozialem Frieden und städtebaulich ausgetüftelten Masterplänen geprägt – kaum ertragen kann und sich dann doch verwundert die Augen reibt, mit welch stoischem Gleichmut sich die Menschen in diesem Chaos eingerichtet haben: Aber vielleicht hatte Siddhartha, der Begründer des Buddhismus ja recht, als er lehrte, dass der Mensch nichts begehren sollte, denn wer nichts begehrt, kann auch nicht leiden.
Komponierte Zufallsbilder
Viele Fotos beruhen – scheinbar – auf Zufall. Oft hat Bialobrzeski spontan aus einem fahrenden Auto oder auf dem Rücksitz eines Motorrollers sitzend auf den Auslöser gedrückt, viele Bilder haben etwas Verschwommenes, die Konturen lösen sich auf, alles wirbelt diffus durcheinander. Er interessiert sich nicht für Details, sondern für die Gleichzeitigkeit und Überlagerung von Eindrücken. Nie zoomt er sich heran, nie fotografiert er nur ein Gesicht oder einen Laden oder eine Wellblechhütte, sondern er blickt auf einen größeren Zusammenhang, setzt Mensch und Umwelt in Beziehung.
Aber seine Fotos haben nie eine Tiefenschärfe, egal ob Vorder- oder Hintergrund – alles ist gleich scharf oder unscharf, alles ist gleich bedeutend oder unbedeutend, und der Himmel, der über dieser unwirklichen Szenerie brütet, wirkt wie eingefroren. Nirgends ist je eine Wolke zu sehen, der Himmel ist immer grau und schmutzig, als hätte jemand ihn gemalt.
Man erkennt erst auf den zweiten Blick, dass vieles nicht zufällig und spontan ist, sondern gewollt und bearbeitet. Während alles andere Drumherum wie mit Staub überdeckt erscheint, leuchten plötzlich herumflatternde Plastikplanen in babyblau, Verkaufsstände in grellem Grün und Wellblechwände in knalligem Rot. Vielleicht kann man die scheußliche Wirklichkeit nur mit ironischem Kitsch und die Erbärmlichkeit der Welt nur ertragen, wenn man sie als das zeigt, was sie ist: total absurd.