Peter Carey: "Amnesie"
Aus dem australischen Englisch von Anette Grube
Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2016
464 Seiten, 24,99 Euro
Politthriller mit Paukenschlag
Peter Careys "Amnesie" ist zunächst als australischer Politthriller über Datenaktivismus à la Wikileaks gefeiert worden. Aber die Einstufung greift zu kurz, meint unser Rezensent. Carey leuchte vielmehr sehr gründlich seine gebrochenen Charaktere aus und zeige, wie sich die Vergangenheit auf die Gegenwart auswirke.
Mit einem Paukenschlag setzt "Amnesie" ein, der neue Roman des australischen Schriftstellers Peter Carey. Einer Hackerorganisation um die junge Politaktivistin Gabrielle Baillieux gelingt es, die digitalen Sicherheitssysteme der australischen Gefängnisse zu überwinden - und der meisten US-amerikanischen Haftanstalten gleich mit. In den Gefängnissen gehen alle Türen auf, Tausende Häftlinge werden befreit. Peter Carey, der den renommierten Man Booker Prize gleich zweimal gewann, weiß, wie man einen politischen Roman eröffnet.
Und doch kann einen gerade dieser furiose Beginn beim Lesen auf die falsche Fährte setzen. Als der Roman 2014 im Original erschien, wurde er von der englischsprachigen Literaturkritik gleich als literarische Bearbeitung der Themen um den politischen Datenaktivismus à la Wikileaks gepriesen. Das ist aber eher ein zugkräftiger Marketing-Move als eine zutreffende Beschreibung dieses vielschichtigen und selbstironischen Romans. Wer "Amnesie" als Thriller über die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters zu lesen versucht, wird enttäuscht werden. Nach dem fulminanten Einstieg dauert es mehr als 200 Seiten, bevor es überhaupt um die konkreten Hintergründe der Befreiungsaktion geht.
Peter Carey schlägt in "Amnesie" immer wieder erzählerische Haken
Dafür leuchtet Peter Carey die Hintergründe seiner gebrochenen Figuren breit aus. Da gibt es den linken Journalisten Felix Moore, der sich als ziemlicher Angsthase herausstellt; eine Figur, die etwas vom enttäuschten Idealismus des Film Noir hat, nur, statt hard boiled zu sein, ein Weichei ist. Da gibt es den zwielichtigen Immobilienhai Woody Townes, der vielleicht mit der CIA zusammenarbeitet. Und es gibt vor allem Celine Baillieux, die Mutter von Gabrielle, die während der Vergewaltigung ihrer Mutter durch einen ebenso gutaussehenden wie brutalen US-Soldaten während des Zweiten Weltkriegs gezeugt wurde.
Erzählerisch schlägt Peter Carey immer wieder überraschende Haken, um seine Figuren miteinander in Beziehung zu setzen. Wer weiß schon, dass es mitten im Zweiten Weltkrieg zwischen den verbündeten Soldaten der USA und Australiens eine regelrechte Schlacht um die Frauen gegeben hat, mit Schießereien und Toten, die "Schlacht von Brisbane"? Nicht nur diesen historischen Hintergrund baut Carey in sein komplexes Handlungsgerüst ein. Sondern auch die wohl verfassungsfeindliche Absetzung der linken australischen Regierung um den Labor-Premierminister Gough Whitlam 1975, bei der die CIA ihre Finger im Spiel gehabt haben soll - genau in dem Moment der Absetzung wird Gabrielle Baillieux geboren.
Was wurde aus den 68er-Revolten?
Besonders eindringlich geraten Peter Carey die Szenen aus den links-bohemistischen Künstlermilieus der siebziger Jahre. Man muss kein besonderes Interesse an Australien haben, um gerade diese Abschnitte spannend zu finden. Hier geht es darum, was aus den gesellschaftlichen Aufbrüchen um das Jahr 1968 wurde.
Statt eines in sich geschlossenen Politthrillers um digitalen Widerstand bekommt man in diesem Roman ein erzählerisch oft übermütiges Panorama über die Auswirkungen der Vergangenheit auf die Jetztzeit.