Unserem Kritiker hat dieser Thriller gar nicht gefallen. Anders beurteilte ihn unsere Krimibestenlisten-Jury, die Farris' Roman auf den siebten Platz wählte. Die ganze Liste mit allen Rezensionen und Empfehlungen finden Sie hier.
Peter Farris: "Letzter Aufruf für die Lebenden"
© Polar
Zeitlos bleihaltig
02:53 Minuten
Peter Farris
Aus dem Amerikanischen von Sven Koch
Letzter Aufruf für die LebendenPolar Verlag, Stuttgart 2022432 Seiten
16,00 Euro
Was nicht zusammenpasst, wird zusammengeschossen: Peter Farris erzählt in seinem anspielungsreichen, brutalen Südstaaten-Thriller "Letzter Aufruf für die Lebenden" von den katastrophalen Folgen eines Banküberfalls.
Peter Farris' Thriller „Letzter Aufruf für die Lebenden“ funktioniert so: Hicklin soll, nachdem er aus dem Knast heraus ist, für die Aryan Brotherhood eine Bank irgendwo im ländlichen Georgia überfallen. Er erschießt die schwarze Filialleiterin und nimmt den Kassierer Charlie als Geisel mit auf die Flucht. Allerdings hält er sich nicht an die Abmachung mit seinen kriminellen Kumpanen, sondern zieht das Ding auf eigene Faust durch.
Jetzt sind sie alle hinter Hicklin her: zwei ultrabrutale Schurken der Brotherhood, der Country Sheriff Lang und die Ermittlerin des Georgia Bureau of Investigation, Sallie Crews. Zwischen Hicklin und Charlie entwickelt sich eine Beziehung, die man mit dem Stockholm-Syndrom erklären könnte, wobei sich andeutet, dass Charlie möglicherweise Hicklins Sohn ist.
Nach einer langen Reihe von Gräueltaten, Folterungen und flächendeckenden Schießereien, unter anderem in der Kirche einer Schlangenanbetersekte, kommt es zum großen, bleihaltigen Showdown à la „The Wild Bunch“ (und nicht etwa „Butch Cassidy and the Sundance Kid“, weil dieser Roman absolut komik- und humorfrei ist).
Nichts als Versatzstücke
Die Bausteine sind klar erkennbar: viel Jim Thompson und „The Getaway“, ein Häppchen Cormack McCarthy, ein Spritzer Daniel Woodrell, ein bisschen "Pulp Fiction" – die beiden Brotherhood-Killer sind deutlich an Tarantino angelehnt.
Dazu White Trash inklusive Meth, Suff, unappetitlichem Sex, Südstaaten-Rassismus und Southern Pride, religiöser Wahn, ein versoffener Dorfsheriff, der diesmal alles richtig machen will, und ein paar Vignetten aus dem miesen Knastleben, pseudotiefsinnige Dialoge und eine Menge selbstzweckhafter Gewalt.
Diese Elemente sind – fast wie „Malen-nach-Zahlen“ – miteinander verschraubt, allerdings leider nicht sehr geschickt. Das hat unter anderem mit dem irritierenden Einsatz kursivierter Textpassagen zu tun, bei denen jedes Mal unklar ist, ob sie Flashbacks darstellen sollen oder inneren Monolog oder Element von Multiperspektivität.
Fußnote zum Country Noir
Ein Plausibilitätsproblem hat der Roman zudem: Hicklin nimmt Charlie als Geisel, ohne anfangs zu ahnen oder gar zu wissen, dass der sein Sohn sein könnte, hat aber keinen einzigen Grund für diese Geiselnahme, denn er könnte problemlos ungesehen entkommen.
Er quält den eher nerdigen Charlie, demütigt ihn nach Strich und Faden – und wandelt sich dann zur aufopfernden Vater-Figur, während aus dem Muttersöhnchen Charlie mit zunehmendem Gewaltlevel endlich ein „richtiger“ Mann wird, der auch gewalttätig sein kann.
Da liegt wohl das Manko des Romans: Es passt alles nicht richtig zusammen, weil alles wild übereinander aufgehäuft wird. Oder es fehlt an origineller Variationskraft für Standardsituationen des Subgenres.
Insofern ist „Letzter Aufruf für die Lebenden“ eine Art C-Picture, für Sammler*innen, Liebhaber*innen oder Philolog*innen des Country Noir möglicherweise eine Art interessante Fußnote. Das Strickmuster auf jeden Fall scheint beinahe zeitlos: Dass der Roman im Original schon zehn Jahre alt ist, ist ihm kaum anzumerken.