Peter Handke: "Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
560 Seiten, 34 Euro
Eine einfache Fahrt ins Landesinnere
Mit "Die Obstdiebin" erschuf Peter Handke ein Epos, in dem sich kleine, oft abseitige, skurrile Beobachtungen und Begegnungen während einer "einfachen Fahrt ins Landesinnere" zu einer eigenen Märchen- und Wahrnehmungswelt verdichten.
Peter Handke schreibt keine Romane. Man kann sein neues, großes Buch "Die Obstdiebin", das keine Gattungsbezeichnung trägt, mit dem irritierenden, wie von fern her klingenden Ton nur verstehen, wenn man es als "Epos" begreift. In den Notizen und tagebuchähnlichen Aufzeichnungen von "Vor der Baumschattenwand nachts" aus dem letzten Jahr wies er auf das kommende große Buch bereits hin: Es solle "Die Obstdiebin" heißen und sein "letztes Epos" sein.
Ein zeitloses, gleichzeitig gegenwärtiges Epos
Viele Motive in den meist knappen Absätzen der "Baumschattenwand" sind jetzt zu längeren Prosapassagen ausgebaut. Und das "Epische" ist ein so radikaler wie sanft beiseite gesprochener Gegenentwurf zu dem, was man sich gemeinhin unter einem Roman vorstellt. Es gibt keinen Plot, keine voranschreitende, sich verdichtende oder spannungsgeladene Handlung, und es gibt vor allem keine Psychologie. Bereits in seinem programmatischen Weltentwurf aus dem Jahr 1994 "Mein Jahr in der Niemandsbucht" umschreibt Handke die Hoffnung, dass der mittelhochdeutsche Epiker Wolfram von Eschenbach als Autor der Gegenwart wiederkehren möge. Eines der drei Motti der "Obstdiebin" stammt denn auch aus dem "Willehalm" Wolframs: "Man sah den lichten Sommer in so mannigfacher Farbe nie."
Die mittelhochdeutschen Epen sind Abenteuer- und Reiseromane, die viel beschreiben, aber nichts erklären. Es geht um Mythen. Sie umkreisen eine Wahrheit, die sich im pragmatischen Sprechen nicht erfassen lässt. So hat Handkes "Obstdiebin" etwas seltsam Zeitloses und doch Gegenwärtiges. Man sieht die Gegend um Versailles, die Handke als seine "Niemandsbucht" nun schon seit Jahrzehnten beschwört, durchaus mit dem Blick aus dem Jahr 2017 mitsamt den Metro- und Regionalzugstationen, und man sieht die Picardie, in die die Obstdiebin aufbricht, in ihrer zeitgenössischen Verlorenheit und Leere.
Die mittelhochdeutschen Epen sind Abenteuer- und Reiseromane, die viel beschreiben, aber nichts erklären. Es geht um Mythen. Sie umkreisen eine Wahrheit, die sich im pragmatischen Sprechen nicht erfassen lässt. So hat Handkes "Obstdiebin" etwas seltsam Zeitloses und doch Gegenwärtiges. Man sieht die Gegend um Versailles, die Handke als seine "Niemandsbucht" nun schon seit Jahrzehnten beschwört, durchaus mit dem Blick aus dem Jahr 2017 mitsamt den Metro- und Regionalzugstationen, und man sieht die Picardie, in die die Obstdiebin aufbricht, in ihrer zeitgenössischen Verlorenheit und Leere.
In einer eigenen Märchen- und Wahrnehmungswelt
Es gibt dabei verblüffende Gemeinsamkeiten mit dem herausragenden Buch "Fremd gewordenes Land" des brillanten Essayisten Jean-Christophe Bailly, das das gegenwärtige Frankreich unter anderem analysiert, indem es dem Flusslauf der Oise in der Picardie folgt.
Die allgegenwärtige Terrorahnung, die Bilder von Flüchtlingen und ihren andersartigen Kleidungs- und Essensgepflogenheiten sind in den Zeilen dieses Epos immer präsent. Und dennoch entzieht sich "Die Obstdiebin" eindeutigen Zuschreibungen und entfaltet eine eigene Märchen- und Wahrnehmungswelt. Es gibt gleichwohl autobiografische Bezüge, die Handke lustvoll und selbstironisch herstellt, es gibt binnenliterarische Verweise etwa auf sein Prosabuch "Der Bildverlust" von 2002: Jetzt sucht die Tochter, die Obstdiebin, ihre Mutter, so wie die Mutter im "Bildverlust" die Tochter sucht. Es geht um nichts anderes als um eine "einfache Fahrt ins Landesinnere", wie es der Untertitel verheißt.
Begegnungen und Beobachtungen, abseitig und skurril
Man sollte sich von dem gewaltigen Umfang dieses Buchs nicht täuschen lassen. Es besteht vor allem aus in sich geschlossenen Szenen, kleinen Begegnungen und Beobachtungen, oft abseitig und skurril, und der Autor lässt seine Figuren manchmal wie in einem Theaterstück wunderliche, pathetische und gerade dadurch wirklichkeitssatte Monologe sprechen. Es ist erstaunlich, wie konsequent der Schriftsteller Handke dem allgemeinen Lauf der Welt seine eigenen Sprachbilder entgegenhält: mit allen selbstreferenziellen Verspieltheiten, Narreteien und stilistischen Eigenheiten, bei denen auch die gewaltigsten Idiosynkrasien unabdingbar zur Poetologie gehören. Wenn er zum Beispiel auf wenigen Seiten das Wesen der Haselnuss beschreibt, verzeiht man ihm alles.