Peter Hessler: "Die Stimmen vom Nil"

Ägypten zwischen Gegenwart und Unendlichkeit

04:33 Minuten
Das Buchcover "Die Stimmen vom Nil" von Peter Hessler ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
In "Die Stimmen vom Nil" blickt Peter Hessler nicht nur auf die großen politischen Ereignisse. © Carl Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Günther Wessel |
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Zu Beginn des arabischen Frühlings kam der US-amerikanische Journalist Peter Hessler nach Kairo. Die lange Reportage "Die Stimmen vom Nil" ist die Essenz seiner Recherchen – und lässt die politische Entwicklung Ägyptens seit 2011 besser verstehen.
Peter Hessler ist ein wunderbarer Reporter, der sich ins Geschehen hineinschleicht und genau hinschaut. Er blickt nicht nur auf die großen politischen Ereignisse, sondern versucht mitfühlend über Menschen und deren Alltagsleben das Land zu verstehen.
Ebenso anschaulich wie detailliert beschreibt der US-Journalist das Leben seiner Protagonisten und lernt so die ägyptische Gesellschaft und ihre Struktur kennen. Zwei seiner Helden sind der Müllmann Sayyid und der Dolmetscher Manu.

Müllsammlen ist mehr als Recycling

Sayyid sammelt in seinem Wohnblock den Müll. Nicht als Angestellter einer Behörde, sondern als Kleinunternehmer. Er lebt davon, was die Müllverursacher ihm freiwillig zahlen und von dem, was er Brauchbares aus dem Müll fischt. Wobei er irrtümlich in den Müll Gelangtes immer an den Besitzer zurückgibt – Finderlohn und Dankbarkeit sind ertragreicher als kurzfristiger Profit.
Zugleich ist er einer der am besten informierten Menschen des Stadtviertels, denn er weiß aus den Abfällen, welcher Muslimbruder heimlich Alkohol konsumiert und wer wie viele chinesische Viagra-Tabletten zu sich nimmt.
Hessler erfährt, dass die Müllsammler in Kairo für eine Recyclingquote von 80 Prozent sorgen, und beobachtet, wie dieses in den Müllsammler-Vierteln geschieht. Er lernt aber auch Sayyids Familie kennen, erfährt viel über Strategien von Heirat, Ehestreitigkeiten, Scheidung und über traditionelle Vorstellungen zu Familien-und Geschlechterbildern.
Der Dolmetscher Manu ist homosexuell. Er wird gemobbt und denunziert, von Homophoben beleidigt und geschlagen, mehrfach verhaftet und muss schließlich fliehen: Nach Deutschland, wo er Asyl erhält.

Geschickte Bezüge zur Zeit der Pharaonen

Hessler verwebt geschickt das Leben seiner Freunde mit dem politischen und historischen Geschehen. Er berichtet von den Protesten auf dem Tahir-Platz und Mohammed Mursi, dem Muslimbruder und ehemaligen Staatspräsidenten, dem nach dem Putsch durch Abdel Fatah El-Sisi der Prozess gemacht wurde.
Der Autor schreibt auch über altägyptische Geschichte und stellt einen Zusammenhang zur Gegenwart her. Die Ägypter der Pharaonenzeit besaßen ein anderes Konzept von Zeit und Geschichte als wir heute: Zeit war nichts Lineares, weshalb einzelne Ereignisse auch keine Bedeutung besaßen.
Stattdessen kannten sie Neheh und Djet – Neheh bezeichnet zyklisch wiederkehrendes wie die Jahreszeiten oder das Nilhochwasser. Djet ist Zeit ohne Bewegung – eine Unendlichkeit in der Gegenwart.

Eine grandiose Großreportage

Hessler findet das auch im heutigen Ägypten – zyklische Wiederkehr und Unendlichkeit. "Ägypten auf ewig", liest er bestätigend auf einem Schild an der Autobahn. Man kann darüber streiten.
Unstrittig ist aber, dass ihm ein grandioses Buch gelungen ist, eine toll zu lesende Großreportage, die einen tiefen Einblick in das heutige Ägypten bietet.

Peter Hessler: Die Stimmen vom Nil. Eine Archäologie der ägyptischen Revolution
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Pfeiffer und Andrea Thomsen
Carl Hanser Verlag, München 2020
544 Seiten, 26 Euro

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